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Clary seufzte. Nicht einmal die Wärme von Isabelles Schulter an ihrem Oberarm konnte das Eis in ihren Adern zum Schmelzen bringen. Ihr war klar, dass sie streng genommen kein einziges Gesetz gebrochen hatte, aber sie wusste auch, dass der Rat furchtbar wütend auf sie war. Schattenjäger durften niemanden von den Toten erwecken, aber das galt nicht für den Erzengel; trotzdem war ihre Bitte an den Engel, Jace ins Leben zurückzuholen, von derart großer Tragweite gewesen, dass sie und Jace beschlossen hatten, niemandem davon zu erzählen.

Aber jetzt war die ganze Sache doch noch ans Licht gekommen und hatte die Nephilimgemeinschaft in ihren Grundfesten erschüttert. Clary wusste, dass die Ratsmitglieder sie bestrafen wollten – und sei es nur deshalb, weil ihre Bitte solch katastrophale Konsequenzen nach sich gezogen hatte. Tief in ihrem Inneren wünschte sie sich fast, man würde sie bestrafen… ihr die Knochen brechen, die Fingernägel herausreißen, ihren Verstand mit den messerscharfen Gedanken der Stillen Brüder durchforsten. Eine Art Teufelspakt: ihr eigener Schmerz im Tausch gegen Jace’ unversehrte Rückkehr. Das würde ihr auch gegen ihre Gewissensbisse helfen, weil sie Jace allein auf der Dachterrasse zurückgelassen hatte – selbst wenn Isabelle und die anderen ihr schon hundert Mal versichert hatten, das sei lächerlich. Schließlich hatten sie alle angenommen, dass es dort oben ungefährlich für ihn war. Und außerdem: Wenn Clary bei ihm geblieben wäre, würde sie jetzt wahrscheinlich ebenfalls zu den Vermissten zählen.

»Hör auf damit«, sagte Isabelle.

Einen Moment lang war Clary sich nicht sicher, ob Izzy mit ihr oder mit dem Kater sprach. Denn Church zog mal wieder seine Show ab, die er gern inszenierte, wenn man ihn absetzte: Er lag auf dem Rücken, alle viere in die Luft gestreckt, und stellte sich tot, um seinem Frauchen ein schlechtes Gewissen zu machen. Doch als Isabelle ihre schwarzen Haare nach hinten warf und Clary anfunkelte, erkannte sie, dass sie gemeint war und nicht der Kater. »Womit soll ich aufhören?«, fragte sie.

»In düsteren Gedanken zu versinken, was dir für schreckliche Dinge zustoßen könnten – oder was für schreckliche Dinge du dir sogar wünschst, weil du lebst und Jace… verschwunden ist.« Isabelles Stimme machte einen kleinen Satz wie die hüpfende Nadel eines Tonabnehmers auf einer Schallplatte. Die Worte, dass Jace vielleicht tot war, brachte sie nicht über die Lippen – sie und Alec weigerten sich, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen.

Und Isabelle hatte ihr auch nie Vorwürfe gemacht, weil sie solch ein gewaltiges Geheimnis nicht mit ihr geteilt hatte, überlegte Clary. Tatsächlich hatte sie sich in letzter Zeit als ihre unerschütterliche Beschützerin entpuppt: Isabelle hatte sie jeden Tag an der Tür zum Ratssaal abgefangen, sich fest bei Clary untergehakt, um dann gemeinsam an der Meute finster starrender, murmelnder Nephilim vorbeizumarschieren. Und sie hatte während endlos langer Ratsbefragungen geduldig auf Clary gewartet und jedem einen scharfen Blick zugeworfen, der es wagte, sie auch nur schräg anzusehen. Clary war vollkommen überrascht gewesen. Sie hätte sich und Isabelle nicht unbedingt als beste Freundinnen bezeichnet – schließlich gehörten sie beide eher zu der Sorte Mädchen, die mit Jungs besser klarkamen als mit anderen weiblichen Wesen. Aber Isabelle war ihr nicht von der Seite gewichen, worüber Clary ebenso verwundert wie dankbar war.

»Ich kann einfach nicht anders«, erwiderte Clary nun. »Wenn ich an der Suche teilnehmen dürfte – oder wenigstens irgendetwas tun dürfte –, dann wäre es nicht ganz so schlimm, glaub ich.«

»Ich weiß nicht recht.« Isabelle klang müde. Während der vergangenen zwei Wochen waren sie und Alec jeden Abend nach sechzehnstündigen Patrouillen und Suchaktionen erschöpft ins Institut zurückgewankt.

Als Clary herausfand, dass es ihr verboten war, sich an den Suchtrupps zu beteiligen oder auf sonstige Weise nach Jace zu suchen, bis der Rat seinen Beschluss gefasst hatte, war sie so wütend geworden, dass sie ein Loch in ihre Schlafzimmertür getreten hatte.

»Manchmal kommt mir das alles so nutzlos vor«, fügte Isabelle hinzu.

Eine eisige Kälte kroch knackend durch Clarys Knochen. »Soll das heißen, du glaubst, er ist tot?«

»Nein, natürlich nicht. Ich glaube nur, dass er unmöglich noch in New York sein kann.«

»Aber in anderen Städten werden doch ebenfalls Suchaktionen durchgeführt, oder nicht?« Reflexartig griff Clary an ihren Hals und vergaß, dass der Morgenstern-Ring sich nicht länger dort befand. Magnus hatte ihn noch immer, um Jace zu orten, obwohl bisher nichts dabei herausgekommen war.

»Selbstverständlich suchen sie auch in anderen Städten nach ihm.« Isabelle beugte sich vor und berührte vorsichtig die winzige Silberglocke, die statt des Rings um Clarys Hals hing. »Was ist das?«, fragte sie neugierig.

Clary zögerte. Die Glocke war ein Geschenk der Elbenkönigin. Nein, das stimmte nicht ganz, denn die Königin des Lichten Volkes machte keine Geschenke. Diese Silberglocke diente nur dazu, Kontakt mit ihr aufzunehmen, wenn Clary ihre Hilfe benötigte. Als mehr und mehr Tage ohne ein Zeichen von Jace verstrichen, hatte Clary sich immer wieder dabei ertappt, wie ihre Hand nach der Glocke tastete. Doch bisher hatte sie sich nicht getraut, sie zu läuten, weil sie wusste, dass sie ohne eine Furcht einflößende Gegenleistung keine Unterstützung von der Elbenkönigin bekommen würde.

Doch ehe Clary Isabelles Frage beantworten konnte, wurde die Tür geöffnet. Ruckartig setzten beide Mädchen sich auf, dabei umklammerte Clary eines von Isabelles rosa Zierkissen so fest, dass sich die Strasssteinchen in ihre Handflächen drückten.

»Hi.« Eine schlanke Gestalt betrat das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu: Alec, Isabelles älterer Bruder, trug die offizielle Ratskleidung – eine schwarze Robe, mit silbernen Runen durchwirkt – offen über seiner Jeans und einem schwarzen Langarmshirt. Die dunkle Kleidung ließ seine helle Haut noch blasser erscheinen und seine kristallblauen Augen noch blauer leuchten. Seine Haare waren genauso schwarz und glatt wie die seiner Schwester, allerdings kürzer, sodass sie ihm nur bis zum Kinn reichten. Und er hatte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst.

Clarys Herz begann, wild zu schlagen. Alec wirkte nicht sehr glücklich. Was auch immer für Neuigkeiten er hatte, sie konnten nicht gut sein.

Isabelle fand als Erste ihre Stimme wieder. »Wie ist die Sitzung gelaufen?«, fragte sie leise. »Wie lautet das Urteil?«

Schweigend ging Alec zu ihrem Frisiertisch und setzte sich auf den Stuhl, sodass er Izzy und Clary über die Lehne hinweg ansehen konnte. Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre dieser Anblick komisch gewesen: Alec war ziemlich groß und hatte lange Beine wie ein Tänzer, die er nun unbeholfen um den Stuhl schlang, der dadurch wie ein Möbelstück aus einem Puppenhaus wirkte. »Clary«, setzte er an. »Jia Penhallow hat das Urteil verkündet: Du bist von allen Vorwürfen freigesprochen. Du hast gegen kein einziges Gesetz verstoßen und Jia ist der Überzeugung, dass du durch die jetzige Situation schon genug gestraft bist.«

Isabelle atmete hörbar aus und lächelte. Einen Moment lang brach ein Anflug von Erleichterung die dicke Eisschicht auf, die Clary zu erdrücken drohte. Man würde sie nicht bestrafen – sie nicht in der Stadt der Stille einkerkern, einem Ort, von dem aus sie Jace nicht helfen konnte. Luke, der als Repräsentant der Werwölfe bei der Urteilsverkündung dabei gewesen war, hatte versprochen, Jocelyn sofort nach dem Ende der Ratssitzung anzurufen, doch Clary griff trotzdem nach ihrem Handy; die Aussicht darauf, ihrer Mutter zur Abwechslung einmal gute Nachrichten überbringen zu können, war einfach zu verlockend.