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»Aber der Shax-Dämon ...«

»Aber ich sag’s dir doch: Ich glaube nicht, dass das ein Shax-Dämon war. Meines Erachtens hat der Dämon sie nur verfolgt ... sie aufgespürt ... aus irgendeinem anderen Grund oder für irgendjemand anderen.«

»Shax-Dämonen haben in der Tat einen feinen Geruchssinn«, räumte Will ein. »Ich hab schon von Hexenmeistern gehört, die sie zum Aufspüren vermisster Personen eingesetzt haben. Und dieser Dämon hier schien sich sehr zielbewusst zu bewegen.« Erneut schaute er an Jem vorbei auf die kleine, jämmerliche Gestalt in der Gasse. »Du hast nicht zufälligerweise die Tatwaffe gefunden?«

»Doch. Hier.« Jem zog etwas aus der Innentasche seiner Jacke — ein in ein weißes Tuch gewickeltes Messer. »Das ist eine Art Misericordia oder Stilett. Sieh mal, wie dünn die Klinge ist.«

Will nahm die Waffe entgegen. Die Klinge war in der Tat sehr dünn und endete in einem Heft aus poliertem Bein, an dem getrocknetes Blut klebte. Stirnrunzelnd wischte Will die Klinge am groben Stoff seines Ärmels sauber, bis auf dem Metall ein eingraviertes Symbol zum Vorschein kam: zwei Schlangen, die sich gegenseitig in den Schwanz bissen und so einen perfekten Kreis bildeten.

»Ein Ouroboros«, sagte Jem, dicht über die Klinge gebeugt. »Sogar ein doppelter. Was, denkst du, hat das zu bedeuten?«

»Das Ende der Welt«, erwiderte Will, den Blick noch immer auf den Dolch geheftet. Ein mattes Lächeln umspielte seine Lippen. »Das Ende und den Anfang der Welt.«

Jem runzelte die Stirn. »Die Symbolik ist mir bekannt, William. Ich meinte eigentlich, was die Anwesenheit dieses Symbols auf dem Stilett wohl zu bedeuten hat?«

Ein Windstoß, der vom Fluss hinaufkam, zerzauste Wills Haare. Mit einer ungeduldigen Handbewegung wischte er sie sich aus den Augen und widmete sich wieder der Klinge. »Das ist das Symbol eines Alchemisten, keines Hexenmeisters oder Schattenweltlers. Und das bedeutet in der Regel, dass Menschen die Finger im Spiel haben — jene Sorte törichter Irdischer, die glaubt, die Beschäftigung mit Magie sei der Weg zu Ruhm und Reichtum.«

»Jene Sorte, die in der Regel als blutiger Haufen im Inneren eines Pentagramms endet«, bestätigte Jem grimmig.

»Und die gern in den Schattenweltvierteln unserer schönen Stadt herumschleicht.« Vorsichtig wickelte Will die Waffe in sein Taschentuch und schob sie in seine Manteltasche. »Meinst du, Charlotte lässt mich die Ermittlungen durchführen?«

»Meinst du denn, dass dir ein solcher Fall anvertraut werden kann ... in der Schattenwelt Londons? Mit all den Spielhöllen, den magischen Lasterhöhlen, den leichten Mädchen ...«

Ein Lächeln umspielte Wills Lippen — ein Lächeln, wie es Luzifer wenige Augenblicke vor seiner Verbannung aus dem Himmel gelächelt haben mochte. »Was meinst du: Ob der morgige Tag zu früh ist, um mit den Nachforschungen zu beginnen?«

Jem seufzte. »Mach doch, was du willst, William. Das tust du ja sowieso.«

Southampton. Mai 1878.

Tessa konnte sich gar nicht mehr an die Zeit erinnern, als der Klockwerk-Engel noch nicht zu ihrem Leben gehört hatte. Er stammte von ihrer Mutter, die ihn auch zum Zeitpunkt ihres Todes getragen hatte. Danach war der Engel in eine Schmuckkassette gelegt worden, bis ihr Bruder Nathaniel ihn eines Tages herausgenommen hatte, um zu überprüfen, ob das Uhrwerk noch intakt war.

Kaum größer als Tessas kleiner Finger, präsentierte die winzige Messingstatuette ein fein geschnittenes Gesicht mit geschlossenen Augenlidern. Die Hände waren über einem langen Schwert verschränkt und die kleinen, geschlossenen Bronzeschwingen auf dem Rücken der Figur schienen kaum größer als die einer Grille. Unter ihnen hindurch verlief eine dünne Kette, sodass der Engel wie ein Medaillon um den Hals getragen werden konnte.

Tessa wusste, dass der Engel aus mechanischen Teilen gefertigt war, denn wenn sie ihn sich ans Ohr hielt, konnte sie das Geräusch des Uhrwerks hören wie das Ticken einer Taschenuhr. Ihr Bruder Nate hatte überrascht die Augen aufgerissen — verwundert, dass der Engel nach so vielen Jahren immer noch funktionierte — und nach einem Knopf, einem Rädchen oder einem anderen Aufziehmechanismus gesucht, aber nichts gefunden. Schließlich hatte er den Engel achselzuckend an Tessa weitergegeben, die ihn von diesem Moment an nicht mehr abgelegt hatte. Selbst nachts, wenn sie schlief, ruhte der Engel an ihrer Brust; sein beständiges Tick-tack, Tick-tack schlug wie der Puls eines zweiten Herzens.

Jetzt in diesem Augenblick hielt Tessa den Engel fest umklammert, während die Main sich zwischen anderen wuchtigen Dampfschiffen einen Weg hindurchbahnte, auf der Suche nach einem Ankerplatz in den Docks von Southampton. Nate hatte darauf bestanden, dass Tessa nach Southampton reiste statt nach Liverpool, wo die meisten transatlantischen Dampfer anlegten. Da er behauptet hatte, Southampton sei ein wesentlich angenehmerer Landungsplatz als die Stadt am Mersey, war Tessa ein wenig enttäuscht, als sie nun zum ersten Mal einen Blick auf das englische Festland werfen konnte. Die Landschaft wirkte trostlos und grau. Regen trommelte auf die Turmspitzen einer weit entfernten Kirche, während schwarzer Qualm aus den Schornsteinen der Schiffe aufstieg und den ohnehin düsteren Himmel zusätzlich verdunkelte. Am Kai stand eine reglose Menschenmenge, in dunkle Kleider gehüllt und mit aufgespannten Regenschirmen. Angestrengt hielt Tessa nach ihrem Bruder Ausschau, doch der Nebel und der Nieselregen waren zu dicht, um irgendjemanden erkennen zu können.

Tessa erschauderte. Der Wind, der von der See kam, war eisig. In all seinen Briefen hatte Nate stets behauptet, London sei wundervoll und die Sonne scheine jeden Tag. Na, dann hoffen wir mal, dass das Wetter dort besser ist als hier, überlegte Tessa, denn sie besaß keine warme Kleidung — nichts außer einem Wollumhang, der ihrer Tante Harriet gehört hatte, und einem Paar dünner Handschuhe. Die meisten Kleidungsstücke hatte sie veräußert, um die Beerdigungskosten ihrer Tante bezahlen zu können — in der festen Überzeugung, dass ihr Bruder ihr neue Sachen kaufen würde, sobald sie in London eintraf.

Ein Ruf schallte vom Kai hoch. Die Main, deren schimmernder, schwarz gestrichener Rumpf regenfeucht glänzte, war vor Anker gegangen und nun pflügten sich kleine Boote durch die grauen Fluten, um Gepäck und Passagiere an Land zu bringen. Diese verließen in Strömen das Schiff, offensichtlich ganz begierig darauf, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Welch ein Unterschied zur Abfahrt in New York. Damals war der Himmel strahlend blau gewesen und eine Blaskapelle hatte gespielt. Aber da es niemanden gegeben hatte, der ihr zum Abschied hätte winken können, war es für Tessa kein allzu schöner Moment gewesen.

Mit hochgezogenen Schultern schloss sie sich nun der von Bord gehenden Menge an. Eisige Regentropfen stachen ihr wie spitze Nadeln in die ungeschützte Haut und ihre Finger in den dünnen Handschuhen fühlten sich feucht und klamm an. Als sie endlich den Kai erreichte, schaute Tessa sich erwartungsvoll um, immer auf der Suche nach Nate. Da sie sich während der Überfahrt von den anderen Passagieren weitestgehend ferngehalten hatte, hatte sie seit fast zwei Wochen mit keiner Menschenseele mehr ein Wort gewechselt. Umso mehr freute sie sich jetzt darauf, Nate endlich wiederzusehen und jemanden zum Reden zu haben.

Doch ihr Bruder war nirgends zu finden. Tessas Blick schweifte über die Stapel von Gepäckstücken und das Frachtgut in den zahlreichen Kisten und Boxen bis hin zu den Bergen von Früchten, Gemüsen und Salaten, die im strömenden Regen welk wurden. Ganz in der Nähe machte sich ein Dampfschiff mit Ziel Le Havre zum Auslaufen bereit und eine Gruppe durchnässter Seeleute stürmte an Tessa vorbei, wobei sie lautstark französische Flüche ausstießen. Als sie versuchte, den Männern auszuweichen, wäre sie fast von einer Horde von Bord kommender Passagiere niedergetrampelt worden, die sich in den Schutz der Eisenbahnstation flüchtete.