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In einem fernen Land, das Vietnam hieß, kämpften Soldaten der Vereinigten Staaten. Mit jedem Monat, so schien es, wurden mehr junge Männer von der Straße und von den Farmen geholt und nach Vietnam verfrachtet. Je mehr Ellie über die Hintergründe des Krieges erfuhr und je mehr sie den öffentlichen Erklärungen führender Staatsmänner zuhörte, desto wütender wurde sie. Der Präsident und der Kongreß logen und mordeten, dachte sie, und fast alle anderen billigten es stillschweigend. Und als sie sah, daß ihr Stiefvater sich der offiziellen Meinung von vertraglichen Verpflichtungen, Dominotheorie und unverhüllter kommunistischer Aggression anschloß, wurden ihre Zweifel nur noch stärker. Sie fing an, Versammlungen und Kundgebungen im benachbarten College zu besuchen. Die Menschen, die sie dort kennenlernte, fand sie viel intelligenter, freundlicher und lebendiger als ihre unbeholfenen und farblosen Mitschüler von der High School. John Staughton warnte Ellie vor ihren neuen Bekannten, und zuletzt verbot er ihr geradeheraus, ihre Zeit mit den Studenten vom College zu verbringen. Die Studenten würden sie nie als gleichberechtigt anerkennen, sagte er. Im Gegenteil, man werde sie ausnützen. Und sie selbst erhebe Anspruch auf eine Intellektualität, die sie nicht habe und niemals haben werde. Und die Art, wie sie sich anziehe, lasse auch immer mehr zu wünschen übrig. Armeekleidung sei unpassend für ein Mädchen und verlogen bei jemand, der vorgebe, sich gegen die amerikanische Intervention in Südostasien aufzulehnen. Ellies Mutter beteiligte sich — von ein paar gutgemeinten Ermahnungen, sich nicht zu „zanken“, abgesehen — kaum an den Auseinandersetzungen zwischen Ellie und Staughton. Aber wenn sie mit Ellie allein war, bat sie sie inständig, ihrem Stiefvater doch zu gehorchen und „nett“ zu ihm zu sein. Ellie hatte jetzt den Verdacht, daß Staughton ihre Mutter nur wegen der Lebensversicherung ihres Vaters geheiratet hatte. Was hätte er sonst für einen Grund haben können? Er zeigte in keiner Weise, daß er sie liebte — und er selber war ja auch überhaupt nicht „nett“ zu ihr. Eines Tages bat ihre Mutter sie ganz aufgeregt um etwas, das für sie alle wichtig sei: Sie sollte in die Sonntagsschule gehen. Als Ellies Vater, der Offenbarungsreligionen gegenüber skeptisch war, noch lebte, war nie die Rede von der Sonntagsschule gewesen. Wie hatte ihre Mutter Staughton nur heiraten können? Zum tausendsten Mal stellte sie sich diese Frage. Die Sonntagsschule, fuhr ihre Mutter fort, würde ihr helfen zu verstehen, was gut und richtig war, aber was noch viel wichtiger sei, Staughton würde merken, daß Ellie sich alle Mühe gab, mit ihm auszukommen. Aus Liebe und Mitleid für ihre Mutter fügte Ellie sich stillschweigend.

Fast ein ganzes Schuljahr ging Ellie also jeden Sonntag zu einem Gesprächskreis in eine nahegelegene Kirche. Veranstaltet wurde der Unterricht von einer protestantischen Gruppierung, deren Mitglieder nicht von rücksichtslosem Missionseifer besessen waren. Die Teilnehmer waren Schüler der High School, Erwachsene, darunter vor allem Frauen mittleren Alters, und die Lehrerin, die Frau des Pfarrers. Ellie hatte nie zuvor ernsthaft die Bibel gelesen und neigte dazu, dem vielleicht zu strengen Urteil ihres Vaters zuzustimmen, die Bibel sei „eine Mischung aus barbarischer Geschichte und Märchen“. Deshalb las sie an dem Wochenende vor der ersten Unterrichtsstunde die Teile des Alten Testaments, die ihr wichtig erschienen, und versuchte, dabei unvoreingenommen zu sein. Sie merkte sofort, daß es in den ersten zwei Kapiteln der Genesis zwei einander widersprechende Schöpfungsgeschichten gab. Außerdem konnte sie nicht verstehen, wie es Licht und Tag hatte werden können, bevor die Sonne erschaffen war, und sie hatte Schwierigkeiten, genau herauszufinden, wen Kain nun geheiratet hatte. Die Geschichten über Lot und seine Töchter, Abraham und Sarah in Ägypten, die Verlobung Dinas sowie Jakob und Esau verblüfften sie. Daß es in der wirklichen Welt Feigheit gab, daß Söhne ihren betagten Vater hinters Licht führten und betrogen, daß ein Mann feige der Verführung seiner Ehefrau durch den König zustimmte oder gar die Vergewaltigung seiner Töchter unterstützte, konnte sie sich vorstellen. Aber in dieser heiligen Schrift stand nicht ein einziges Wort des Protestes gegen solche Freveltaten. Im Gegenteil, Ellie hatte den Eindruck, daß die Verbrechen gebilligt, ja sogar gepriesen wurden. Als die Bibelstunde begann, war Ellie begierig, über diese verwirrenden Ungereimtheiten zu sprechen und Gottes Absicht, die das alles rechtfertigte, erklärt zu bekommen. Zumindest wollte sie erfahren, warum die Verbrechen von den Autoren oder dem einen göttlichen Autor des Buches nicht verurteilt wurden. In diesem Punkt wurde sie freilich enttäuscht. Die Frau des Pfarrers reagierte ausweichend auf ihre Fragen. Und in den späteren Gesprächen kam man dann auch nicht mehr auf diese Geschichten zu sprechen. Als Ellie fragte, wie die Dienerin der Tochter des Pharaos nur durch Hinsehen feststellen konnte, daß der Säugling in den Binsen Jude war, wurde die Lehrerin puterrot und bat Ellie, nicht mehr so unziemliche Fragen zu stellen. Im selben Moment dämmerte Ellie die Antwort.

Als sie zum Neuen Testament übergingen, wurde Ellies Unbehagen noch größer. Matthäus und Lukas verfolgten die Linie der Vorfahren von Jesus bis auf König David zurück.

Während bei Matthäus nur achtundzwanzig Generationen zwischen Jesus und David lagen, waren es bei Lukas dreiundvierzig. Und unter den Namen der beiden Stammbäume gab es kaum gemeinsame. Wie konnten also sowohl das Matthäusevangelium als auch das Lukasevangelium das Wort Gottes sein? Ellie sah in den widersprüchlichen Ahnenreihen den offenkundigen Versuch, die Prophezeiung Jesajas im nachhinein den Fakten anzugleichen — im Chemielabor nannte man das „Daten frisieren“. Tief ergriffen war sie von der Bergpredigt, zutiefst enttäuscht aber von der Ermahnung „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist“. Und als die Lehrerin zweimal ihrer Frage nach der Bedeutung von „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ auswich, brach sie vor Wut und Enttäuschung in Tränen aus. Ihrer völlig ratlosen Mutter teilte sie mit, daß sie ihr Bestes getan habe, daß aber keine zehn Pferde sie noch einmal in die Sonntagsschule brächten.

Ellie lag auf ihrem Bett. Es war eine heiße Sommernacht, und im Radio sang Elvis „One night with you, that’s what I’m beggin’ for“. Die Jungen von der High School waren so schrecklich albern, und Freundschaften mit den jungen Männern vom College aufzubauen, die sie bei Vorträgen und Kundgebungen kennenlernte, war schwierig und wurde zusätzlich erschwert durch das abendliche Ausgehverbot und alle anderen Verbote ihres Stiefvaters. Insgeheim mußte sie zugeben, daß John Staughton zumindest in einem Punkt recht hatte: Die jungen Männer dachten auch ihr gegenüber fast immer zuerst an Sex. Gleichzeitig stellte Ellie aber fest, daß sie in ihren Gefühlen viel verletzlicher waren, als sie erwartet hatte. Vielleicht hing ja das eine mit dem anderen zusammen.

Ellie hatte sich schon halbwegs damit abgefunden, nicht aufs College gehen zu können. Dennoch war sie fest entschlossen, von zu Hause auszuziehen. Staughton würde ihr dafür keinen Pfennig zahlen, und die schüchternen Fürbitten ihrer Mutter blieben fruchtlos. Aber Ellie hatte bei den landesweiten Aufnahmeprüfungen fürs College außerordentlich gut abgeschnitten, und ihre Lehrer teilten ihr zu ihrer Überraschung mit, daß ihr wahrscheinlich ein paar bekannte Universitäten ein Stipendium anbieten würden. Sie hatte bei vielen Multiple-choice-Fragen einfach geraten und hielt ihre Leistung deshalb für das Ergebnis eines glücklichen Zufalls. Wenn man sehr wenig wußte, hatte sie sich ausgerechnet, aber genug, um bei den Fragen alle Antworten bis auf die zwei wahrscheinlichsten ausschließen zu können, so war bei zehn Fragen die Chance eins zu tausend, daß man alle zehn richtig löste. Bei zwanzig Fragen lagen die Chancen bei eins zu einer Million. Aber ungefähr eine Million Schüler machten den Test. Einer unter ihnen mußte also der Glückliche sein.