Sie folgten ungefähr dem Flusslauf, vorbei an Ansammlungen von Lichtern, den Orten Bloomfield und Farmington, dann voran in die leere Dunkelheit. Als der Hubschrauber weiter gen Süden einschwenkte, sah Wolf den dunklen Umriss des Navajo Mountain in der Ferne, und nun konnte er das Ziel dieses Fluges erraten: das Isabella-Projekt.
Er malmte nachdenklich auf seinem Kaugummi herum. Er hatte Gerüchte gehört – wie alle in der kleinen Gemeinschaft der Hochenergiephysik –, dass es bei Isabella Probleme geben sollte. Er war ebenso schockiert gewesen wie die anderen, als er vom Tod seines ehemaligen Kollegen Peter Wolkonski erfahren hatte. Nicht, dass er den Russen sonderlich gemocht hätte, aber dessen Fähigkeiten als Programmierer hatte er stets respektiert. Er fragte sich, was das für ein Problem sein könnte, das den Einsatz eines uniformierten Sondereinsatzkommandos erforderlich machte.
Fünfzehn Minuten später ragte die schwarze Silhouette der Red Mesa vor ihnen auf. Ein Lichtfleck am Rand zeigte die Lage des Zugangs zu Isabella an. Der Helikopter sank herab, raste über die Mesa hinweg, hielt dann langsamer auf einen Flugplatz zu, der von zwei langen Reihen blauer Strahler erhellt wurde, und setzte schließlich auf einem Helipad auf.
Die Rotoren liefen aus, einer der Kämpfer stand von seinem Sitz auf und öffnete die Frachtluke. Wolfs Bewacher legte ihm eine Hand auf die Schulter und bedeutete ihm, zu warten. Die Tür glitt auf, die Männer des FBI-Kommandos sprangen einer nach dem anderen hinaus und rannten sofort geduckt unter den Rotorblättern los, als müssten sie die Landezone sichern.
Fünf Minuten vergingen. Dann winkte sein Bewacher ihn hinaus. Wolf hängte sich seinen Rucksack über eine Schulter und ließ sich hübsch Zeit beim Aussteigen – er hatte nicht vor, sich hier ein Bein zu brechen. Übertrieben vorsichtig kletterte er hinaus und ging geduckt durch die aufgepeitschte Luft unter den Rotorblättern. Sein Begleiter berührte ihn leicht am Ellbogen und deutete auf eine Blechhütte. Sie gingen dorthin, und der Bewacher öffnete ihm die Tür. In der Hütte roch es nach frischem Holz und Leim, doch sie war leer bis auf einen Tisch und eine Reihe billiger Stühle.
»Setzen Sie sich, Dr. Wolf.«
Wolf ließ seinen Rucksack auf einen Stuhl am Tisch fallen und setzte sich auf den daneben. Er konnte sich kaum einen unbequemeren Platz vorstellen, vor allem um diese Uhrzeit – so weit weg von dem Kopfkissen in seinem Bett, in das er eigentlich gehörte. Er versuchte immer noch vergeblich, es sich bequem zu machen, als einer der Männer dieses seltsamen Kommandos hereinkam. Der Mann streckte ihm die Hand entgegen. »Special Agent Doerfler, ich leite diesen Einsatz.«
Wolf schüttelte halbherzig die dargebotene Hand, ohne aufzustehen.
Doerfler setzte sich auf die Tischkante und versuchte offensichtlich, freundlich und entspannt zu wirken. Das gelang ihm nicht: Der Mann war so aufgedreht wie das trommelnde Häschen in der Batteriewerbung. »Sie fragen sich sicher, warum Sie hier sind, Dr. Wolf.«
»Wie haben Sie das erraten?« Leuten wie Doerfler mit ihren superkurzen Bürstenschnitten, Südstaatenakzent und dieser aalglatten Art misstraute er grundsätzlich. Während der Vorarbeiten zu Isabella hatte er mit zu vielen von dieser Sorte zu tun gehabt.
Doerfler warf einen Blick auf die Uhr. »Wir haben nicht viel Zeit, daher fasse ich mich kurz. Man hat mir gesagt, Sie kennen sich bestens mit Isabella aus, Dr. Wolf.«
»Das möchte ich doch hoffen«, erwiderte er gereizt. »Ich war stellvertretender Leiter des Planungsteams.«
»Waren Sie schon einmal hier?«
»Nein. Meine Arbeit fand ausschließlich auf Papier statt.«
Doerfler stützte sich auf den Ellbogen und beugte sich mit ernster Miene vor. »Hier draußen ist irgendetwas passiert. Wir wissen nicht genau, was. Das Team aus Wissenschaftlern hat sich im Berg eingeschlossen und sämtliche Kommunikationswege nach außen abgeschnitten. Sie haben den Hauptcomputer ausgeschaltet und lassen Isabella bei voller Kraft laufen, mit Hilfe der Back-up-Systeme.«
Wolf fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Das war so abgefahren, dass er es nicht glauben konnte.
»Wir haben keine Ahnung, was hier los ist. Wir könnten es mit einer Geiselnahme zu tun haben, einer Meuterei, einem Unfall oder irgendeiner Art unerwarteter Störung an den Geräten oder der Stromzufuhr.«
»Und was soll ich hier?«
»Dazu komme ich gleich. Die Männer, mit denen Sie hierhergeflogen sind, gehören zu einem Geiselrettungsteam des FBI. Sie sind eine Eliteeinheit, eine Art Sondereinsatzkommando. Das bedeutet nicht, dass wir von einer Geiselnahme ausgehen, aber wir müssen auf alle Eventualitäten vorbereitet sein.«
»Reden Sie etwa von Terroristen?«
»Möglich. Das Geiselrettungsteam wird sich Zugang zu der Anlage verschaffen, eventuelle Geiseln befreien, unerwünschte Personen neutralisieren, die Wissenschaftler isolieren und in Sicherheit bringen.«
»Unerwünschte Personen neutralisieren – Sie meinen, Sie wollen Leute erschießen?«
»Falls notwendig.«
»Sie wollen mich wohl verarschen.«
Doerfler runzelte die Stirn. »Nein, Sir, ganz und gar nicht.«
»Sie haben mich aus dem Bett geholt, damit ich mich Ihrem kleinen Überfallkommando anschließe? Tut mir leid, Mr. Doerfler, aber da haben Sie den falschen Bern Wolf.«
»Sie brauchen sich nicht die geringsten Sorgen zu machen, Dr. Wolf. Ich habe Ihnen einen Begleiter zugewiesen, Agent Miller. Absolut zuverlässig. Er wird nicht von Ihrer Seite weichen, Ihnen jeden Schritt des Wegs zeigen. Erst wenn der Komplex gesichert ist, wird er Sie hineinbringen, damit Sie Ihren Auftrag ausführen können.«
»Und der wäre?«
»Isabella abschalten.«
Von seinem Aussichtspunkt auf einem Felsvorsprung oberhalb des Nakai Valley beobachtete Nelson Begay den Isabella-Komplex mit einem alten Armeefernglas. Vorhin war ein Hubschrauber tief über das Tipi hinweggeflogen, hatte ihre Zeremonie übertönt und das Zelt erschüttert wie ein Sandsturm. Begay und Becenti waren auf die Anhöhe geklettert, um einen besseren Überblick zu haben, und konnten nun sehen, dass der Hubschrauber auf dem Flugfeld gelandet war, anderthalb Kilometer entfernt.
»Haben die’s auf uns abgesehen?«, fragte Becenti.
»Keine Ahnung«, erwiderte Begay, der das Flugfeld beobachtete. Männer mit Gewehren sprangen aus dem Hubschrauber. Sie brachen einen Hangar auf, fuhren zwei Humvees heraus und begannen damit, sie zu beladen.
Begay schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass das irgendwas mit uns zu tun hat.«
»Bist du sicher?« Becenti klang enttäuscht.
»Nein, bin ich nicht. Wir gehen besser mal rüber und sehen uns das aus der Nähe an.« Er warf Becenti einen Blick zu und bemerkte dessen aufgeregten Gesichtsausdruck. Begay legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Aber bleib schön ruhig, ja?«
53
Stanton Lockwood lupfte seine Manschette, um auf seine Rolex zu schauen. Viertel vor zwei Uhr in der Nacht. Der Präsident hatte das FBI-Geiselrettungsteam, kurz HRT, um Mitternacht angefordert, und die Operation lief bereits. Vor ein paar Minuten war das HRT auf dem Flugplatz gelandet. Sie luden nun ihre Ausrüstung auf Humvees um, für die kurze Fahrt zur Sicherheitszone am Rand der Klippen, direkt oberhalb der Öffnung zum Bunker.
Die Atmosphäre im Raum war nervös. Jean, die Sekretärin des Präsidenten, die auf dessen Anweisung hin immer wieder Notizen stenographiert hatte, schüttelte ihre verkrampfte rechte Hand aus.
»Sie haben den ersten Humvee beladen«, meldete der FBIDirektor, der das Geschehen für den Präsidenten laufend kommentierte. »Immer noch niemand zu sehen. Sie müssen alle unten im Bunker sein, genau, wie wir vermutet haben.«
»Immer noch kein Kontakt zu ihnen?«
»Nein. Alle Kommunikationswege vom Flugfeld zum Bunker sind abgeschnitten.«