Während er zurück zum Rand der Mesa lief, wo der Dugway oben herauskam, nahm in seinen Gedanken ein Plan Gestalt an. Zuerst brauchte er einen Platz, an dem sie parken und sich sammeln konnten und der so weit von Isabella entfernt lag, dass sie nicht gesehen wurden. Sie mussten sich in Gruppen einteilen, sich gut absprechen und dann angreifen. Und da, direkt am oberen Ende des Dugway, etwa viereinhalb Kilometer von Isabella entfernt, lag ein weites, offenes Feld aus kahlem Fels, der ideale Platz dafür.
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr: Viertel vor zwölf. Zwei Stunden waren vergangen, seit er die E-Mail rausgeschickt hatte. Jeden Moment würden die Ersten eintreffen. Er joggte mitten auf der Straße entlang, um die Fahrzeuge abzufangen.
Knapp einen Kilometer vom Anfang des Dugway entfernt hörte er das Grollen eines Motorrads. Ein einzelner Lichtpunkt erschien auf der Mesa und bewegte sich rasch auf ihn zu. Das Licht näherte sich langsamer, als der Strahl auf Eddy fiel, und ein Geländemotorrad hielt vor ihm an. Im Sattel saß ein muskulöser Mann mit langem, blondem Haar, zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden; er trug eine Jeansjacke mit abgerissenen Ärmeln und kein Hemd darunter. Sein Gesicht war markant wie das eines Filmstars, zerfurcht und dennoch von beinahe göttlicher Ausstrahlung. Ein schweres, metallenes Kreuz an einer Silberkette ruhte auf seiner haarigen Brust.
Als das Motorrad stehenblieb, streckte er die gestiefelten Beine aus, brachte die Maschine ins Gleichgewicht und grinste. »Pastor Eddy?«
Mit hämmerndem Herzen trat Eddy vor. »Ich grüße dich im Namen Jesu Christi.«
Der Mann klappte den Seitenständer herunter, stieg ab – er war riesengroß – und ging mit ausgebreiteten Armen auf Eddy zu. Dann drückte er Eddy in einer staubigen, nach Schweiß stinkenden Umarmung an sich, trat zurück und packte ihn freundschaftlich an beiden Schultern. »Randy Doke.« Erneut zog er Eddy an sich. »O Mann, bin ich wirklich der Erste?«
»Das sind Sie.«
»Nicht zu glauben, dass ich es geschafft habe. Als ich Ihren Brief gelesen hatte, bin ich sofort auf meine Kawasaki gesprungen und von Holbrook hierhergefahren. Querfeldein, durch die Wüste, ich habe Zäune eingerissen und bin gefahren wie der Teufel. Wäre ja schon eher hier gewesen, aber in der Nähe der Second Mesa hat’s mich hingelegt. Ich kann’s gar nicht glauben, dass ich da bin. O Mann, nicht zu fassen.«
Eddy spürte, wie Selbstvertrauen in ihm aufwallte und neue Energie.
Der Mann blickte sich um. »Also – was jetzt?«
»Wir wollen beten.« Er ergriff Dokes rauhe Hände, und sie neigten die Köpfe. »Allmächtiger Gott, mögen Deine Engel uns umgeben, Flügelspitze an Flügelspitze, mit blanken Schwertern, um uns zu schützen und uns, Deine Diener, zum Sieg zu führen gegen den Antichristen. Im Namen Jesu Christi unseres Herrn. Amen.«
»Amen, Bruder.«
Der Mann hatte eine tiefe, volltönende Stimme, die Eddy beruhigend und sehr anziehend fand. Das war ein Mann, der in jeder beliebigen Situation wusste, was zu tun war.
Doke kehrte zu seinem Motorrad zurück, holte ein Gewehr aus einem Lederfutteral, das am Sitz befestigt war, und schulterte die Waffe. Dann zog er einen vollen Patronengürtel aus der Satteltasche und hängte ihn über die andere Schulter, so dass er aussah wie ein altmodischer Guerillakrieger. Er warf Eddy ein breites Grinsen zu und salutierte. »Bruder Randy meldet sich zum Dienst in der Armee Gottes!«
Weitere Scheinwerfer näherten sich – langsam, unsicher. Ein staubiger Jeep mit offenem Verdeck hielt neben ihnen. Ein Mann und eine Frau Mitte dreißig stiegen aus. Eddy breitete die Arme aus und zog sie an sich, erst den Mann, dann die Frau. Die beiden begannen zu weinen, und ihre Tränen hinterließen sichtbare Spuren auf den staubigen Gesichtern.
»Seid gegrüßt im Namen Christi.«
Der Mann trug einen völlig mit Staub bedeckten Anzug und hielt eine Bibel in der Hand. In seinem Gürtel steckte ein Küchenmesser. Die Frau hatte kleine Papierstreifen an ihre Bluse geheftet, die bei jeder Bewegung flatterten. Eddy sah, dass es sich um Bibelverse und fromme Sprüche handelte. Folgen und trau’n … Gehet hin in alle Welt … Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende … »Die hängen sonst zu Hause am Kühlschrank«, sagte sie. Dann griff sie in den Jeep und holte einen Baseball-Schläger heraus.
»Wir haben gebetet und gebetet, aber wir konnten uns nicht entscheiden«, sagte der Mann. »Wollte Gott, dass wir Sein Wort im Kampf führen, oder wollte Er, dass wir richtige Waffen benutzen?«
Sie standen vor Eddy und erwarteten seine Befehle.
»Da gibt es keinen Zweifel«, sagte Eddy. »Das wird eine Schlacht. Eine echte Schlacht.«
»Dann bin ich ja froh, dass wir die hier mitgebracht haben.«
»Eine Menge Leute werden diese Straße entlangkommen«, fuhr Eddy fort. »Vermutlich Tausende. Wir brauchen einen Platz, wo wir alle versammeln und uns vorbereiten können. Einen Sammelplatz. Der ist da drüben, rechts von der Straße.« Er deutete auf die große Fläche aus Fels und Sand; bleich schimmerte sie im Licht des krummen Mondes, der eben über dem Rand der Mesa aufgegangen war. »Randy, Gott hat Sie nicht ohne Grund als Ersten zu mir geführt. Sie sind meine rechte Hand. Mein General. Sie und ich werden alle dort drüben versammeln und unsere … unsere Attacke planen.« Es fiel ihm schwer, das Wort auszusprechen, nun, da es tatsächlich so weit war.
Randy nickte scharf und sagte kein Wort. Eddy bemerkte, dass auch er feuchte Augen hatte. Er war zutiefst gerührt.
»Sie beide müssen mit Ihrem Jeep die Straße blockieren, damit niemand näher an Isabella heranfährt. Wir müssen sie überraschen. Schicken Sie alle von der Straße runter, sie sollen auf dem offenen Bereich da drüben parken. Randy und ich gehen auf diesen Hügel. Wir warten. Wir stoßen nicht zu Isabella vor, ehe wir genug Leute beisammenhaben.«
Weitere Scheinwerfer erschienen am Ende des Dugway.
»Isabella liegt knapp fünf Kilometer diese Straße runter. Wir müssen uns still verhalten, bis wir zum Angriff bereit sind. Sorgen Sie dafür, dass niemand vorprescht oder wilde Aktionen startet. Der Antichrist soll nicht ahnen, dass wir kommen, bis wir zahlenmäßig weit überlegen sind.«
»Amen«, sagten die beiden.
Eddy lächelte. Amen.
56
Um zwei Uhr morgens saß Reverend Don T. Spates am Schreibtisch in seinem Büro hinter der Silver Cathedral. Mehrere Stunden zuvor hatte er Charles und seine Sekretärin zu Hause angerufen und sie gebeten, ins Büro zu kommen, weil er der vielen Anrufe und E-Mails nicht mehr Herr wurde. Vor ihm lag der Stapel E-Mails, die Charles als wichtig ausgewählt hatte, bevor der Mail-Server zusammengebrochen war. Daneben ein Haufen Telefonnotizen. Im Vorzimmer konnte er das Telefon unablässig klingeln hören.
Spates versuchte, das gewaltige Ereignis zu begreifen, das sich gerade abspielte.
Ein sachtes Klopfen an der Tür, und seine Sekretärin trat mit frischem Kaffee ein. Sie stellte ihn auf den Tisch, daneben ein Porzellantellerchen mit einem Macadamiakeks.
»Ich will keinen Keks.«
»Ja, Reverend.«
»Und gehen Sie nicht mehr ans Telefon. Stöpseln Sie es einfach aus.«
»Ja, Reverend.« Teller und Keks verschwanden mit der Sekretärin. Gereizt beobachtete er, wie sie abzog; ihr Haar war nicht so aufgebauscht und glänzend wie sonst, ihr Kleid war zerknittert, und ohne Make-up sah man allzu deutlich, wie unscheinbar sie wirklich war. Sie war wohl schon im Bett gewesen, als er sie angerufen hatte, aber sie hätte sich wirklich mehr Mühe geben sollen.