Er ging an einem hohen Staketenzaun entlang, durch den Buschwerk quoll. Das Tor zu Nummer fünfzehn hing windschief in den Angeln, nur einer der beiden Flügel wurde benutzt. Er drückte, das Schloß war zerbrochen. Das Haus stand weit zurück, die meisten Fenster waren erleuchtet. In einem der oberen Räume beugte sich ein junger Mann über einen Schreibtisch. In einem anderen schienen zwei Mädchen zu streiten, an einem dritten Fenster spielte eine Frau auf der Bratsche, aber er konnte keinen Ton hören. Auch im Erdgeschoß waren die Fenster erleuchtet, aber die Gardinen zugezogen. Der Vorplatz war gefliest, die Haustürfüllung aus Buntglas, am Pfosten hing ein alter Zetteclass="underline" Nach 23 Uhr nur Seiteneingang benutzen. Über den Klingeln weitere Zetteclass="underline" »Prince, 3 x klingeln«, Lumby 2 x«, »Buzz: bin den ganzen Abend weg, Gruß Janet.« An der untersten Klingel stand »Sachs«, und dort klingelte er. Sofort erscholl Hundegebell und die scheltende Stimme einer Frau.
»Flush, du dummer Kerl, ist doch bloß einer von den Eselsbänklern. Schluß jetzt, Flush. Flush!«
Die Tür ging einen Spalt auf, eine Sperrkette war vorgelegt; ein Körper zwängte sich in den Türspalt. Während Smiley sich fieberhaft bemühte, zu sehen, wer sonst noch im Haus sei, musterten ihn zwei schlaue Augen, feucht wie Babyaugen, schätzten ihn ab, registrierten seine Aktenmappe und die verspritzten Schuhe, huschten nach oben, um über seine Schultern hinweg die Auffahrt abzusuchen, und nahmen ihn sich noch einmal im ganzen vor. Endlich erstrahlte das weiße Gesicht in einem reizenden Lächeln, und Miß Connie Sachs, Ex-Königin der Recherchen-Abteilung im Circus, gab ihrem spontanen Entzücken Ausdruck. »George Smiley«, rief sie mit schüchtern verwehendem Lachen und zog ihn ins Haus. »Sie lieber, netter Mensch, und ich dachte, Sie wollten mir einen Staubsauger verkaufen und dabei ist es unser George!« Sie schloß hinter ihm schnell die Tür. Sie war eine stattliche Frau, einen Kopf größer als Smiley. Wirres, weißes Haar rahmte das zerfließende Gesicht. Sie trug einen braunen Blazer und Hosen mit Gummizug um die Taille, und sie hatte einen Hängebauch wie ein alter Mann. Im Kamin schwelte ein Koksfeuer. Katzen lagen davor, und ein räudiger grauer Spaniel, bis zur Unbeweglichkeit verfettet, lungerte auf dem Sofa. Auf einem Teewagen standen die Konservendosen, aus denen sie aß, und die Flaschen, aus denen sie trank. Aus einem Mehrfachstecker bezog sie den Strom für ihr Radio, ihre Kochplatte und die Brennschere. Ein Junge mit schulterlangem Haar lag auf dem Boden und bereitete Toast. Als er Smiley sah, legte er die Blechgabel weg.
»Ach Jingle, Darling, könntest du wohl morgen kommen?« flehte Connie. »Es passiert nicht oft, daß meine allerälteste Liebe mich besucht.« Er hatte ihre Stimme vergessen. Sie spielte ständig damit, zog sämtliche Register. »Ich gebe dir eine Freistunde, Lieber, ganz unter uns: einverstanden? - Einer von meinen Eselsbänklern«, erklärte sie Smiley, längst ehe der Junge außer Hörweite war. »Ich gebe immer noch Stunden, warum weiß ich nicht, George«, murmelte sie und beobachtete ihn stolz über das Zimmer hinweg, während er die Sherryflasche aus der Aktenmappe nahm und zwei Gläser füllte. »Von all den lieben, netten Männern, die ich je gekannt habe - er ist zu Fuß gegangen«, erklärte sie dem Spaniel.
»Schau nur seine Stiefel an. Den ganzen Weg von London hierher zu Fuß, nicht wahr, George?«
Das Trinken fiel ihr schwer. Ihre gichtigen Finger waren nach unten gekrümmt, als hätte sie sie allesamt beim gleichen Unfall gebrochen, und ihr Arm war steif. »Sind Sie allein marschiert, George?« fragte sie und fischte eine lose Zigarette aus der Jackentasche. »Hat uns niemand begleitet?«
Er zündete ihr die Zigarette an, und sie hielt sie wie ein Erbsenblasrohr, die Finger an der Spitze, und visierte ihn aus ihren schlauen rosa Augen damit an. »Und was möchte er von seiner Connie, der böse Junge?«
»Ihr Gedächtnis.«
»Welchen Teil?«
»Wir gehen einiges aus der Vergangenheit durch.«
»Hast du das gehört, Flush?« schrie sie zu dem Spaniel. »Erst stellen sie uns den Stuhl vor die Tür, dann möchten sie bei uns schnorren. Welche Vergangenheit, George?«
»Ich habe Ihnen einen Brief von Lacon mitgebracht. Er ist heute abend um sieben in seinem Club. Wenn Sie Bedenken haben, rufen Sie ihn von der Telefonzelle an der Ecke aus an. Mir wäre lieber, Sie täten's nicht, aber wenn's sein muß, wird er die nötigen ergreifenden Geräusche von sich geben.«
Sie hatte sich an ihn geklammert, aber jetzt fielen ihre Hände herab und eine ganze Weile tappte sie im Zimmer herum, suchte Rast und Stütze an den vertrauten Plätzen und fluchte: »Fahr zur Hölle, George Smiley, und alle, die im gleichen Boot sitzen.« Am Fenster schob sie, wohl aus Gewohnheit, die Gardine beiseite, aber draußen schien nichts ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. »O George, der Teufel soll Sie holen«, murmelte sie. »Wie können Sie einen Lacon zuziehen? Dann könnten Sie auch gleich die Konkurrenz zuziehen.«
Auf dem Tisch lag die heutige Times, Kreuzworträtsel obenauf. Jedes Quadrat war mit schwerfälligen Buchstaben ausgefüllt. Nicht eines war weiß.
»War heute beim Fußballspiel«, sang sie aus dem Dunkel unter der Treppe, wo sie sich am Teewagen stärkte. »Der liebe Will hat mich mitgenommen. Mein Lieblingsesel, war das nicht super von ihm?« Ihre Kleinmädchenstimme, dazu gehörte ein Schmollmündchen. »Connie hat gefroren, George. Richtig eisig, arme Connie, Zehen und alles.«
Er nahm an, sie weinte, holte sie aus dem Dunkeln und führte sie zum Sofa. Ihr Glas war leer, und er füllte es zur Hälfte. Seite an Seite auf dem Sofa sitzend tranken sie, während Connies Tränen über den Blazer auf seine Hände tropften. »O George«, sagte sie immer wieder, »wissen Sie, was sie gesagt hat, als sie mich rauswarfen? Diese Personalkuh?« Sie hielt eine Ecke von Smileys Kragen fest und zwirbelte sie zwischen Finger und Daumen, während sie sich beruhigte. »Wissen Sie, was diese Kuh gesagt hat?« Ihre Feldwebelstimme: >Sie verlieren den Sinn für die Realität, Connie. Zeit, daß Sie rauskommen in die reale Welt!< Ich hasse die reale Welt, George. Ich mag nur den Circus und alle meine lieben Jungens.« Sie nahm seine Hände und versuchte, ihre Finger in die seinen zu flechten. »Poljakow«, sagte er ruhig. »Alexei Alexandrowitsch Poljakow, Kulturattache, Sowjetbotschaft London. Er ist wieder auferstanden, genau wie Sie vorhergesagt haben.« Ein Wagen bog in die Straße ein, er hörte nur das Geräusch der Reifen, der Motor war bereits abgestellt. Dann Schritte, sehr behutsam.
»Janet schmuggelt ihren Freund ein«, flüsterte Connie, und ihre rosageränderten Augen hefteten sich auf die seinen, während sie mit ihm lauschte. »Sie glaubt, ich wüßte es nicht. Haben Sie gehört? Eisen an den Schuhen. Passen Sie auf.« Die Schritte hielten inne, man hörte ein leises Scharren. »Sie gibt ihm den Schlüssel. Er glaubt, er kann leiser damit aufschließen als sie. Kann er nicht.« Das Schloß drehte sich mit lautem Schnappen. »Ach, ihr Männer«, hauchte Connie mit hoffnungslosem Lächeln. »Ach, George. Warum müssen Sie Alex ausgraben?« Und eine Zeitlang weinte sie um Alex Poljakow.
Ihre Brüder waren Akademiker, erinnerte Smiley sich; ihr Vater war Universitätsprofessor. Control hatte sie beim Bridge kennengelernt und einen Job für sie erfunden.
Sie begann ihre Geschichte wie ein Märchen: »Es war einmal, vor vielen, vielen Jahren, anno dreiundsechzig, ein Überläufer namens Stanley«, und sie ging dabei mit der gleichen Pseudo-Logik zu Werke, teils Intuition, teils intellektueller Opportunismus, wie sie ein großartiger Verstand hervorbringt, der nie erwachsen wurde. Auf ihrem formlosen weißen Gesicht erschien der großmütterliche Glanz beglückten Erinnerns. Ihr Gedächtnis war so umfangreich wie ihr Körper, und sie liebte es sicherlich mehr, denn um ihm zu lauschen, hatte sie alles andere beiseite geschoben: den Drink, die Zigarette, eine Weile sogar Smileys geduldige Hand. Sie saß nicht mehr zusammengekauert, sondern kerzengerade, den großen Kopf zur Seite geneigt, und zupfte an dem weißen Wollhaar. Er hatte angenommen, sie würde sofort mit Poljakow beginnen, aber sie begann mit Stanley; er hatte ihre Leidenschaft für Stammbäume vergessen. Stanley also; der Deckname für einen fünftklassigen Überläufer aus der Moskauer Zentrale. März dreiundsechzig. Die Skalpjäger hatten ihn aus zweiter Hand von den Holländern gekauft und nach Sarratt verfrachtet, und wenn nicht Sauregurkenzeit gewesen wäre und die Inquisitoren zufällig wenig Arbeit gehabt hätten, wer weiß, ob irgend etwas von der ganzen Geschichte ans Licht gekommen wäre. In Brüderchen Stanley steckte ein Goldkörnchen, ein einziges winziges Körnchen, und sie fanden es. Den Holländern war es entgangen, aber die Inquisitoren fanden es, und eine Kopie ihres Berichts fand den Weg zu Connie: »Was ein weiteres Wunder war«, bellte Connie erzürnt, »wenn man bedenkt, daß alle, und besonders Sarratt, dem Grundsatz huldigten, die Recherchen-Abteilung nicht auf ihrer Verteilerliste zu führen . . .« Smiley wartete geduldig auf das Goldkörnchen, denn Connie war in einem Alter, wo ein Mann ihr nur noch seine Zeit schenken konnte.