Er wollte zum Büro zurück — hörte Randall rufen —, doch Vale nahm eine falsche Biegung und fand sich in einer lichtlosen Galerie, wo das Skelett eines fremdartigen Fisches, irgendeines darwinischen Tiefseemonsters, von der Decke hing.
Reiß dich zusammen. Er zwang sich stillzustehen. Mit theatralischen Gebärden durfte er Randall nicht kommen.
Aber er musste allein sein, einen Moment lang wenigstens. Die Desorientierung würde sich geben, die Gottheit würde Arme und Beine übernehmen und Vale zu einem passiven, halbwachen Zuschauer in der Hülse seines Körpers machen.
Die Todesangst würde verebben und schließlich ganz vergessen sein. Aber im Augenblick war sie zu frisch, zu überwältigend. Er war noch er selbst — schmerzempfindlich und verängstigt — und doch schon mitten in einer astralen Existenz, einem virulenten, bedrohlichen anderen Ego.
Er sank zu Boden, bettelte um Erlösung; doch die Gottheit war träge, die Gottheit war beharrlich.
Sein gepeinigtes Hirn stellte die unvermeidlichen Fragen:
Warum ich? Warum bin ausgerechnet ich auserkoren für diese Aufgabe, was immer es damit auf sich hat? Und zu Vales Überraschung hielt die Gottheit diesmal Antworten bereit: wortlose Gewissheiten, für die Vale nur unzulängliche Worte fand.
Weil du gestorben bist, sagte die Phantom-Gottheit.
Das ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Ich bin nicht tot, protestierte Vale.
Weil du im Atlantik ertrunken bist, 1917, als ein amerikanischer Truppentransporter von einem deutschen Torpedo getroffen wurde.
Die Stimme der Gottheit klang wie die seines Großvaters, es war der gewichtige Ton, den der alte Mann immer angeschlagen hatte, wenn er von der Stierhatz erzählte. Die Stimme der Gottheit speiste sich aus Erinnerungen. Seinen, Elias Vales Erinnerungen. Doch die Worte waren falsch. Das war Unsinn. Das war Irrsinn.
Du bist an dem Tag gestorben, als ich von dir Besitz ergriff.
In einer verlassenen Ziegelei am Ohio River. Wie passte das zusammen? Ein verfallenes Backsteingebäude am Ohio und ein gewaltsamer Tod im Atlantik?
»Ich bin gestorben?«, flüsterte er.
Marternde Stille bis auf Randalls ängstliche Schritte im Dunkel hinter dem aufgehängten Skelett.
»Dann«, fragte Vale, »ist das mein Leben nach dem Tode?«
Er erhielt keine Antwort, nur eine Vision: das Museum in Flammen und dann eine rußgeschwärzte Ruine und widerliche, grüne Götter, die wie insektenähnliche Eroberer zwischen den eingestürzten Mauern und den erkalteten Trümmern spazierten.
»Mr. Vale? Elias?«
Er blickte zu Randall auf und brachte den Umriss eines Lächelns zustande. »Tut mir Leid, ich…«
»Ist Ihnen nicht gut?«
»Ja. Ein bisschen.«
»Vielleicht sollten wir den… äh… Termin heute Abend verschieben.«
»Nicht nötig.« Vale spürte, wie er aufstand. Er blickte Randall an. »Berufsrisiko. Ich brauche eine Prise frische Luft. Konnte die Tür nicht finden.«
»Hätten Sie doch einen Ton gesagt. Nun ja, kommen Sie mit.«
Hinaus in die Kälte des frühen Abends. Hinaus auf eine regnerische, menschenleere Straße. Hinaus ins Jenseits, dachte Elias Vale. Irgendwo ganz tief in seinem Innern kauerte ein Schrei.
Kapitel Elf
Keck und Tuckmann konnten keine konkreten Warnungen aussprechen. Nach ihren Instrumenten lag das jetzige Rheinfelden etwa an der gleichen Stelle wie die alt-europäische Kaskade, aber die Messungen waren grob und die Stromschnellen, die früher einmal unterhalb der Fälle geschäumt hatten, fehlten entweder oder lagen in einem tieferen, langsameren Rhein begraben. Sullivan sah darin einen weiteren Beleg für ein Darwinia, das sich irgendwie parallel zum alten Europa entwickelt hatte und in dem vor Urzeiten ein einziger stürzender Felsblock den Flusslauf verändert hatte — im Detail zumindest. Finch dagegen führte das Phänomen auf fehlende menschliche Intervention zurück: »Der Rhein wurde abgefischt, gestaut, befahren und über tausend Jahre lang ausgebeutet. Natürlich musste er da seinen Lauf ändern.« Während dieses Europa unberührt war, wie der Garten Eden.
Guilford behielt seine Meinung für sich. Beide Erklärungen erschienen plausibel (oder gleichermaßen unplausibel). Er wusste nur eins: Er war es leid, die Vorräte auf die primitiven Satteltaschen der Wollschlangen zu verteilen; er war es leid, die großen Stone-Galloway-Boote zu schleppen, deren vielgerühmte ›Leichtigkeit‹ sich als etwas sehr Relatives erwies; er war es leid, die Wollschlangen samt Last zu gängeln, während man Rheinfelden in einem elenden Nieselregen umgehen musste.
Endlich tat sich ein Steinstrand auf, an dem sie die Boote sicher zu Wasser lassen konnten. Die Vorräte wurden gleichmäßig auf die wasserdichten Stauräume und die Satteltaschen der Wollschlangen verteilt. Erasmus würde die Tiere zu ihren Sommerweiden am östlichsten Ausläufer des Lake Constance bringen und wollte dort wieder zur Expedition stoßen.
Das Aussetzen der Boote musste bis zum Morgen warten. Es war noch hell genug, um die Zelte aufzuschlagen, die geschundenen Glieder zu hätscheln, Konservendosen zu öffnen und dem angeschwollenen Fluss zuzusehen, der grün wie ein Insekt und breit wie die Boston Bay den Wasserfällen entgegeneilte.
Guilford waren die Boote suspekt.
Preston Finch hatte sie bestellt und getauft: die Perspicacity,[33] die Orinoco, die Camille (nach Finchs verstorbener Frau) und die Ararat. Die Motoren waren Prototypen, klein aber stark, die Schwerter schützten die Schrauben vor Steinen, und eine Reihe von Abschirmungen aus Segeltuch schützte die Motoren vor Wassereinbrüchen. Sofern der Rhein bis Lake Constance so friedlich blieb, überlegte Guilford, würden die Boote schon durchhalten. Wildwassertauglich waren sie jedenfalls nicht. Und die Leichtbauweise wurde durch die vielen Kanister voll Benzin aufgewogen, eine sperrige Last für Mensch und Tier und die reine Platzvergeudung.
Am Bodensee sollten die Boote versteckt werden. Auf der Rückreise würde man sich der Strömung überlassen, dann waren die von Motoren und Benzin befreiten Boote mehr als komfortabel. Und am ersten Tag auf Wasser funktionierten sie auch leidlich, obwohl der Motorenlärm betäubend war und die Auspuffgase fürchterlich stanken. Die Nähe zum Wasser gefiel Guilford mehr als ›hoch zu Ross‹ darüberzugleiten — ein Teil des Flusses zu sein, den Widerstand der Strömung zu spüren und von den Strudeln geschaukelt zu werden, ein winziges Etwas in einem weiten Land. Es hörte auf zu regnen, der Tag hellte sich auf und an den Steilhängen prangten rebenähnliche Gewächse und obenauf standen knorrige Pagodenbäume. Bestimmt haben wir Erasmus und seine Herde längst abgehängt, dachte Guilford, und Erasmus mochte abgesehen von ihnen und ein paar versprengten Partisanen das einzige menschliche Wesen weit und breit sein. Das Land hat uns vereinnahmt, dachte Guilford. Das Land, das Wasser und die Luft.
Wir kampieren, wo ein namenloser Bach in den Rhein fließt. Ein Teich aus ruhigem Wasser, Keck angelt Dorn und blaue Zappler. Kleinwüchsige Salbeikiefern zwischen den Steinbrocken, Laubwerk beinah türkis, verkümmert durch Wind & steinigen Boden.
PS. Fisch im Überfluss, das Abendessen wird schmackhaft, obwohl Diggs beim Ausnehmen stöhnt. Abfall wandert in den Fluss — lockt die Billyfliegen flussab. (Die Billyfliegen beißen, wenn sie gereizt werden; wir schlafen heute Nacht unter Moskitonetzen. Sonstige Insekten nicht besonders lästig oder giftig, obwohl sich ein krabbenartiges Geschöpf mit einem von Kecks Fischen davongemacht hat — hat ihn von einem nassen Felsen geschnappt & ist damit ins Wasser geflitzt. »Scheren wie ein Hummer«, strahlt Keck. »Zählt eure Zehen, Gentlemen!«)