"Zuviel zu tun, Mr. Crosetti", sagte Will. "Keine Zeit."
"Zeit, Zeit!" Mr. Crosetti wischte sich über die Augen.
"Woher kommt dieser Geruch? In der Stadt verkauft niemand Zuckerwatte. Die gibt's nur im Zirkus und auf der Kirmes."
"Donnerwetter, das stimmt!" sagte Will.
"So, Crosetti hat genug geheult." Der Friseur schneuzte sich und drehte sich um. Er schloß den Laden ab. Dabei betrachtete Will das Zeichen neben der Tür, die Spirale, die aus dem Nichts kam und sich ins Nichts hinaufwand.
An zahllosen Mittagen hatte Will hier gestanden und versucht, den Weg des spiralförmigen Bandes zu verfolgen, zu sehen, woher es kam und wohin es verschwand.
Mr. Crosetti griff nach dem Lichtschalter unter dem Zeichen.
"Bitte, nicht", sagte Will. Dann fügte er leise hinzu: "Nicht ausschalten."
Mr. Crosetti betrachtete das Spiralband, als bemerke er jetzt erst das Wunderbare daran. Dann nickte er und sagte sanft, mit freundlichem Blick: "Wo kommt sie her? Wo geht sie hin? Wie? Wer weiß das schon? Du nicht, er nicht, ich auch nicht. Überall Geheimnisse, bei Gott. Schön. Lassen wir sie an."
Gut zu wissen, daß sie bis zum Morgengrauen weiterlaufen wird, dachte Will, aus dem Nichts, ins Nichts, während wir schlafen.
"Gute Nacht!"
"Gute Nacht."
Sie ließen ihn in einer Brise zurück, die ganz schwach nach Lakritze und Zuckerwatte roch.
Fünftes Kapitel
Charles Halloway legte zögernd die Hand auf den Türknopf, als hätten die grauen Haare auf seinem Handrücken wie Antennen etwas gespürt, das draußen in der Oktobernacht vorüberglitt. Vielleicht gab es irgendwo lohende Brände, und ihr feuriger Atem warnte ihn. Oder eine neue Eiszeit kroch übers Land und deckte in der Stunde eine Milliarde Menschen zu. Vielleicht rann die Zeit selbst aus dem Stundenglas der Ewigkeit, und danach folgte eine pulverisierte Finsternis, die alles begrub.
Vielleicht war es aber auch nur der Mann im dunklen Anzug, den er durch die Glastür der Kneipe auf der anderen Straßenseite erblickt hatte. Der Mann hatte eine große Papierrolle unter dem Arm, in der anderen Hand Eimer und Bürste, und er pfiff leise eine Melodie.
Es war ein unzeitgemäßes Lied, das Charles Halloway immer betrübt stimmte. Es paßte nicht in den Oktober, aber es war zu jeder Jahreszeit, zu jeglicher Tageszeit rührend und überwältigend.
Hell hört' ich Weihnachtsglocken klingen
Und ihre alten Weisen singen.
So süß und laut,
Die Worte traut:
Friede auf Erden, Friede auf Erden!
Charles Halloway rann ein Schauder über den Rücken.
Da war es plötzlich wieder, dieses alte, schrecklich erhebende Gefühl, daß man lachen und weinen zugleich möchte, wenn man am Tag vor Weihnachten die Unschuldigen dieser Erde durch die verschneiten Straßen wandern sieht, zwischen all den müden Männern und Frauen, deren Gesichter schmutzig vor Schuld und nicht abgewaschener Sünde waren, zerschlagen wie kleine Fenster, zertrümmert von den Hieben des Lebens, das unversehens zuschlägt und zurückweicht, wieder zuschlägt und immer wieder.
Lauter und tief die Glocke spricht:
Gott ist nicht tot, noch schläft er nicht!
Der Böse unterliegt,
Der Gerechte siegt!
Friede auf Erden, Friede auf Erden!
Das Pfeifen verklang.
Charles Halloway trat hinaus. Weiter vorn stand der Mann an einem Telegrafenmast und arbeitete schweigend. Dann verschwand er in der offenen Tür eines Ladens.
Charles Halloway wußte auch nicht, warum er über die Straße ging und dem Mann zuschaute, wie er eins seiner Plakate im Fenster des leeren, unvermieteten Ladens anbrachte.
Dann trat der Mann mit seiner Papierrolle, seinem Eimer und dem Pinsel wieder aus der Tür. Sein wilder, flackernder Blick richtete sich auf Charles Halloway.
Lächelnd hob er die Hand.
Halloway riß die Augen auf.
Die Handfläche war mit seidenweichem schwarzem Haar bedeckt. Es sah aus wie...
Die Hand ballte sich zur Faust. Ein Winken, dann war der Mann um die nächste Ecke. Charles Halloway stand benommen da, von Sommerhitze übergossen, schwankte, dann drehte er sich um und warf einen Blick in den leeren Laden.
Unter einer einzelnen Lampe standen nebeneinander zwei Sägeböcke. Darüber lag wie ein Sarg aus Schnee und Eiskristallen ein sechs Fuß langer Eisblock, schimmernd wie von innen heraus, bläulichgrün gefärbt. Ein großer, kalter Edelstein in der Dunkelheit.
Auf dem kleinen weißen Plakat im Fenster las er im Licht der Lampe:
Cooger & Darks Pandämonium-Schattenspiele
Fantoccini, Marionettentheater, Bunter Rummelplatz!
Demnächst in dieser Stadt.
Mit vielen Attraktionen, unter anderem auch
DIE SCHÖNSTE FRAU DER WELT!
Halloways Blick wurde von dem Plakat an der Innenseite des Fensters magisch angezogen.
DIE SCHÖNSTE FRAU DER WELT!
Dann starrte er wieder auf den langen, kalten Eisblock.
An einen solchen Eisblock erinnerte er sich noch aus Kindertagen; der Zauberer eines Wanderzirkus hatte Mädchen zwölf Stunden lang in einen Brocken Winter eingefroren, den die hiesige Eisfabrik geliefert hatte. Vor der Eiswand ging die Vorstellung weiter, bis schließlich schwitzende Magier die blassen Damen befreiten und sie lächelnd hinter den Vorhang entführten.
DIE SCHÖNSTE FRAU DER WELT!
Dabei war dieser durchsichtige Klotz aus winterlichem Glas nichts weiter als gefrorenes Flußwasser.
Oder nicht? Nein, ganz leer war er nicht.
Halloway spürte, wie sein Herz rascher klopfte.
War da nicht ein Hohlraum in dem riesigen weißen Diamant? Eine gewölbte Leere, die sich vom Scheitel bis zur Sohle des Klotzes hinzog? War diese Höhlung, die darauf wartete, mit warmem Fleisch gefüllt zu werden, nicht ungefähr geformt wie ein Frauenkörper?
Ja.
Das Eis. Der Hohlraum mit den lieblichen Kurven, waagrechter Fluß von Linien in der Leere des Eises. Liebliches Nichts. Die schönen Linien einer Meerjungfrau, die es wagte, sich vom Eis gefangennehmen zu lassen.
Das Eis war kalt.
Der Hohlraum im Eis war warm.
Er wollte weg von hier.
Aber Charles Halloway blieb lange Zeit in dem düsteren, leeren Laden stehen. Vor ihm, auf den beiden Sägeböcken, wartete kalt der arktische Sarg und funkelte im Dunkeln wie der Stern von Indien.
Sechstes Kapitel
Jim Nightshade blieb an der Ecke der Hickory und Main Street stehen. Sein Atem ging kaum rascher. Zärtlich wanderte sein Blick die staubbedeckte Hickory Street entlang.
"Will..."
"Nein!" Will erschrak über die eigene Heftigkeit.
"Ist doch gleich da vorn. Das fünfte Haus. Eine einzige Minute nur, Will", bettelte Jim leise.
"Minute?" Will sah die Straße entlang.
Es war die Straße des Theaters.
Bis zu diesem Sommer war es eine ganz gewöhnliche Straße, in der sie je nach Jahreszeit Pfirsiche, Pflaumen und Aprikosen stahlen. Aber dann, Ende August, als sie gerade nach den sauersten Äpfeln in die höchsten Wipfel kletterten, da ereignete sich etwas, das die Häuser verwandelte, den Geschmack der Früchte, sogar die Luft zwischen den flüsternden Bäumen.
"Will. Es wartet auf uns. Vielleicht passiert etwas!" zischte Jim.