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Vielleicht passierte wirklich etwas. Will schluckte hart und spürte an seinem Arm den Druck von Jims Hand.

Das war nun nicht mehr die Straße der Äpfel oder Pflaumen oder Aprikosen; es ging nur um das eine Haus mit dem einen Fenster an der Seite. Dieses Fenster, so sagte Jim, sei eine Bühne und die hochgezogenen Jalousien der Vorhang. In diesem Zimmer, auf dieser seltsamen Bühne, standen die Schauspieler und sprachen geheimnisvolle Texte, formten fremde Worte, lachten, murmelten, seufzten. Das meiste davon war nur Flüstern, und Will verstand es nicht.

"Nur das eine Mal noch, Will!"

"Du weißt genau, es ist nicht das letzte Mal."

Jims Gesicht war gerötet, seine Backen glühten, seine Augen blitzten wie flaschengrünes Feuer. Er dachte an jene Nacht, als sie die Äpfel pflückten und er plötzlich rief: "Da – schau mal!"

Will klammerte sich aufgeregt an die Äste des Baumes und starrte hinein auf das Theater, auf die Bühne, wo die Leute Hemden über die Köpfe zogen, Kleidungsstücke auf den Teppich fallen ließen und nackt wie Tiere dastanden, die Hände nacheinander ausgestreckt.

Was treiben sie nur, überlegte Will. Warum lachen sie? Was fehlt ihnen, was stimmt bei ihnen nicht?

Er wünschte sich nur, daß das Licht ausgehen möge.

Doch er klammerte sich mit plötzlich feuchten Fingern krampfhaft an den Ast und beobachtete das helle Zimmertheater, hörte das Lachen, bis ihm schließlich die Muskeln lahm wurden und er abglitt. Benommen lag er da, dann erhob er sich und starrte hinauf zu Jim, der sich immer noch an seinem hohen Ast festhielt. Mit strahlenden Augen, die Backen feuerrot, die Lippen leicht geöffnet, so starrte er durch das Fenster. "Jim, Jim, komm doch runter!" Aber Jim hörte ihn nicht. "Jim!"

Als Jim dann endlich herunterschaute, da stand Will unten wie ein Fremder, der die verrückte Forderung stellt, das Leben aufzugeben und zur Erde zurückzukehren. Will rannte allein davon. Er dachte zu viel, er dachte gar nichts, er wußte nicht mehr, was er denken sollte.

"Will, bitte..."

Will sah Jim an, die Bücher unter den Arm gepreßt.

"Wir waren doch in der Bibliothek, langt das nicht?"

Jim schüttelte den Kopf. "Halt mal die Bücher."

Er reichte Will die Bücher und schlich dann unter den leise wispernden Bäumen entlang. Drei Häuser weiter rief er zurück: "Will, weißt du, was du bist? Ein blöder, alter Episkopaler Baptist!"

Dann war Jim verschwunden.

Will drückte die Bücher fester an sich. Sie wurden von seinen Handflächen feucht.

Nicht umsehen, dachte er.

Ich tu's nicht! Nein – ich tu's nicht!

Er richtete den Blick dahin, wo sein Haus lag. In diese Richtung marschierte er.

Rasch, rasch.

Siebentes Kapitel

Will hatte die Hälfte des Heimwegs hinter sich, da spürte er jemanden in seinem Rücken.

"Theater geschlossen?" fragte er, ohne sich umzudrehen.

Jim ging eine Weile schweigend neben ihm her, dann sagte er: "Keiner zu Hause."

"Fein."

Jim spuckte aus. "Du verdammter Baptistenprediger!"

Wie ein riesiger Wattebausch kam ein zusammengeknülltes weißes Papier um die Ecke gesaust und verfing sich an Jims Füßen. Will packte lachend das Papier und ließ es fliegen. Dann hörte er auf zu lachen.

Die beiden Jungen froren plötzlich, als sie dem Papierknäuel nachschauten.

"Augenblick...", sagte Jim langsam.

Mit einem Mal rannten sie schreiend hinterher.

"Vorsicht! Nicht zerreißen!"

Das Papier flatterte in ihrer Hand wie das Fell einer Trommel.

"AM 24. OKTOBER KOMMT COOGER & DARK..."

Die Lippen formten die verschnörkelten Buchstaben nach.

"Jahrmarkt!"

"Am 24. Oktober! Das ist morgen!"

"Unmöglich", sagte Will. "So spät im Jahr kommt kein Jahrmarkt mehr in die Stadt."

"Na und? Es geschehen immer noch Zeichen und Wunder! Schau mal! MEPHISTOPHELE, DER FEUERFRESSER! MR. ELEKTRIKO! RIESIGE MONTGOLFIERE!"

"Eine Montgolfiere ist ein Ballon", erklärte Will.

"MADEMOISELLE TAROT!" las Jim weiter. "DER SCHWEBENDE MENSCH! DÄMONEN-GUILLOTINE! DER ILLUSTRIERTE MANN! He!"

"Das ist nichts weiter als ein tätowierter Kerl."

"Nein!" Jims Atem schlug warm an das Papier. "Er ist illustriert, das ist etwas Besonderes. Sieh mal – mit Ungeheuern bedeckt. Eine Menagerie!" Jims Augen blitzten. "Da – das Skelett! Ist das nicht prima, Will?

Kein magerer Mann, ein SKELETT! Dann hier – DIE STAUBHEXE! Was ist eine Staubhexe, Will?"

"Eine dreckige alte Zigeunerin."

"Nein!" Jim blinzelte in die Ferne und sah alles mögliche. "Eine Zigeunerin, die im Staub geboren wurde, im Staub aufgewachsen ist, eines Tages wieder zu Staub werden wird! Aber da ist noch mehr: ÄGYPTISCHES SPIEGELLABYRINTH! SIE SEHEN SICH SELBST ZEHNTAUSENDMAL! DES HEILIGEN ANTONIUS TEMPEL DER VERSUCHUNG!"

"DIE SCHÖNSTE...", las Will.

"... FRAU DER WELT!" beendete Jim den Satz.

Sie sahen einander an.

"Kann ein Jahrmarkt, ein Zirkus überhaupt die schönste Frau der Welt dabei haben, Will?"

"Du kennst doch diese Jahrmarktweiber, Jim!"

"Grizzlybären. Aber es steht doch hier..."

"Ach, hör auf damit!"

"Böse, Will?"

"Nein, nur – halt's fest!"

Der Wind hatte ihnen das Plakat aus den Händen gerissen. Es wurde in verrückten Sprüngen und Bögen über die Baumwipfel davongeweht.

"Stimmt ohnehin nicht", stieß Will hervor. "So spät im Jahr kommt kein Zirkus mehr. Alles dummes Zeug. Wer geht denn da hin?"

"Ich." Jim stand ganz still im Dunkeln.

Ich auch, dachte Will. Er sah vor sich das Ägyptische Spiegelkabinett, die blitzende Guillotine und den schwefelgelben Mann, der flüssige Lava schlürfte wie Tee aus Schießpulver.

"Die Musik", flüsterte Jim. "Jahrmarktsorgel. Sie müssen heute nacht schon kommen!"

"Ein Zirkus kommt immer bei Sonnenaufgang an."

"Und der Geruch nach Lakritze und Zuckerwatte heute abend?"

Will dachte an die Düfte und Klänge, die mit dem Strom des Windes über die Hausdächer hergeweht kamen, an Mr. Tetley, der lauschend neben seinem hölzernen Indianer stand, Mr. Crosetti mit der einen Träne auf der Wange, und das erleuchtete, unendliche Band vor dem Friseurladen, das seine rote Zunge aus dem Nichts ins Nichts wand.

Er klapperte mit den Zähnen.

"Laß uns nach Hause gehen."

"Aber – wir sind schon zu Hause!" rief Jim überrascht.

Ohne es zu merken, waren sie angekommen. Jeder ging seinen Weg zu seinem Haus.

Auf der Veranda drehte Jim sich um und rief halblaut:

"Will, du bist mir nicht böse?"

"Aber nein."

"Wir gehen einen Monat lang nicht mehr in diese Straße, zu diesem Haus, zum Theater. Ich schwör's dir!"

"Schon gut, Jim."

Ihre Hände ruhten schon auf den Türknöpfen ihrer Häuser, da wanderte Wills Blick hinauf zu Jims Dach, wo der Blitzableiter gegen den sternklaren Himmel glänzte.

Das Gewitter kam. Oder es kam nicht...

Auf jeden Fall war er froh, daß Jim das großartige Ding auf dem Dach hatte.

"Nacht!"