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«Nein, Nikolaj Michajlowitsch. Einen Sohn habe ich. «Wachter sagte es mit Stolz. Die Tradition war nie unterbrochen worden, einen Sohn zu haben, war eine Verpflichtung.»In Leningrad ist er jetzt, wird mithelfen, die Stadt zu verteidigen, bewacht die Kunstschätze, die wir noch abtransportieren konnten. Ich bin stolz auf ihn. Auch wenn sie mich erschießen, es ist immer wieder ein Wachter da, der mit dem Bernsteinzimmer leben wird.«

Oberst Limonow hob den Kopf. Aus der Ferne hörten sie den Kanonendonner. Ihm war, als spürte er die Einschläge unter seinen Sohlen, als laufe ein leichtes Zittern durch den Boden.»Morgen sind die Deutschen hier im Schloß. «Limonow schluckte den Ärger über sich selbst hinunter. Natürlich zitterte der Boden des Schlosses nicht, auch wenn er es spürte. Die Nerven! Auch ein Brigadekommandeur hat Nerven, nur hysterisch darf er nicht werden.»Was werden Sie tun, Michail Igo-rowitsch?«

«Ich werde mich beim Kommandeur der deutschen Truppen melden. Sicher bin ich mir, daß er hier im Schloß wohnen wird. Es gibt keinen schöneren Platz in Puschkin. Und bitten, ja anflehen werde ich ihn, das Bernsteinzimmer vor Vandalismus zu beschützen.«

«Vandalismus? Das wollen Sie tatsächlich sagen? Wachterowskij, zusammenschlagen wird man Sie, bis Sie nur noch stammeln können: >Ein deutscher Soldat ist kein Vandale.< Sie waren nie in der Armee?«

«Nein, nie. Immer hatten wir Wachters eine Sonderstellung. Wer sollte sich denn um das Bernsteinzimmer kümmern? Wir hatten ein verbrieftes Recht, es nie zu verlassen, handgeschrieben und gesiegelt von Zar Peter I. Es hängt unter Glas in meinem Wohnzimmer, und jeder Herrscher über Rußland hat es anerkannt… sogar Lenin und Stalin. Nein, ich war nie Soldat, keiner von uns Wachter. Wir lebten nur für das Bernsteinzimmer.«

«Eine interessante Geschichte der Familie Wachterowskij. Erzählen Sie weiter, Michail Igorowitsch.«

«Dazu ist jetzt zu wenig Zeit. Ich muß das Bernsteinzimmer retten. Später, Genosse Oberst.«

«Sie glauben an ein Später?«»Könnten wir ohne diesen Glauben leben?«Michael Wachter zuckte zusammen. Irgendwo, bedrohlich nah, krachten Explosionen und ließen die Scheiben des Saales klirren.»Sie werden sich nach Leningrad zurückziehen, Genosse Oberst?«

«Ja. «Limonow starrte mit versteinertem Gesicht vor sich hin. Noch in der Nacht würde der Stab seiner Brigade sich absetzen und den Katharinen-Palast verlassen müssen.

«In die Stadt?«fragte Wachter.

«Ich werde sicherlich zu Besprechungen mit General Sinowjew und Marschall Schukow in die Stadt kommen.«

«Wenn Sie Zeit finden, könnten Sie meinen Sohn Nikolaj besuchen? In der Eremitage wird er sein. Bei den geretteten Kunstschätzen des Schlosses. Wenn Sie ihn sehen, sagen Sie ihm bitte, daß ich stolz auf ihn bin. Sehr stolz. Nachricht werde ich ihm geben, wo ich auch bin, und wo ich bin, ist auch das Bernsteinzimmer. Wie der Krieg auch ausgeht, wir werden uns wiedersehen. Bitte, sagen Sie es ihm.«

«Ich werde daran denken, Michail Igorowitsch. Leben Sie wohl. «Limonow drückte Wachter die Hand, hielt sie lange fest und sagte dann fast feierlich:»Was werden Sie hin, wenn die Deutschen das Bernsteinzimmer zerstören?«

«Nicht überleben werde ich es. Seit 225 Jahren gehören das Bernsteinzimmer und die Wachters zusammen. Man kann sie nicht mehr trennen — «

Während der Nacht verließen die letzten sowjetischen Truppen den Katharinen-Palast. Wachter stand unter dem Säulenvorbau mit den überlebensgroßen Marmorstatuen an der breiten Treppe zu den Gärten und blickte den wegfahrenden Wagen nach. Eine helle Nacht war's, feucht und klar, voll reiner Luft, durchsetzt vom Duft der Tausenden von Blumen aus den Gärten und dem würzigen Geruch der Bäume. Und still war es, nachdem der Motorenlärm verklungen war, ganz still, als hole die Natur noch einmal tief Atem, bevor am Morgen die Granaten heranheulten, die Erde aufrissen und die Panzerketten alles im Wege Liegende zermalmten.

Auch die Frauen hatten das Schloß verlassen und waren zurück in ihre Häuser gelaufen, erwarteten dort die Deutschen und zitterten ihrer ersten Begegnung mit den Eroberern entgegen. Wie waren diese Deutschen? Stimmte es, was man von ihnen erzählte, was man in den Zeitungen las und was man ihnen berichtete? Vergewaltigten sie die Frauen, warfen sie die kleinen Kinder mit den Köpfen an die Wände, erschossen sie alle Männer, zündeten sie die Häuser an? Viele Bewohner von Puschkin glaubten es und schlossen sich daher noch schnell den zurückflutenden Soldaten an. Auf Handwagen, vor die sich die Frauen an Stricken schirrten, schleppten sie das Allernötigste mit sich fort: ein paar Töpfe, Bettzeug, Decken, Kleidung, Truhen mit Wäsche und heimlich auch das Kruzifix aus der» schönen Ecke «der Wohnung, ein Marienbild oder den segnenden Christus. Wer ein Pferd hatte, war ein Glücklicher. Er konnte es vor seinen Wagen spannen, konnte sogar Möbel mitnehmen und vieles, was im Laufe eines Lebens zusammengekommen war. Er konnte Kartoffeln und gesäuerten Kohl mitnehmen, eingelegte Gurken und dicke, schöne Zwiebeln, einen bisher versteckten Schinken oder strammgestopfte Würste, ja, einige schlachteten sogar noch ein Schwein und deckten es mit Möbeln und Betten zu. Hunger würde es in Leningrad geben, das ahnte man. Von allen Seiten rückten die Deutschen vor, und der Ring um die Stadt wurde immer enger. Woher sollte man für Hunderttausende das Essen bekommen? Da war alles, was man kauen konnte, wichtiger als alles sonst. Wer wußte denn, wie lange die Blockade dauerte, ehe sich die Stadt ergab oder die Deutschen zurückgetrieben wurden oder im Regen ersoffen oder im Eissturm erfroren… Warten wir es ab, warten wir geduldig. Beides haben wir ja in Jahrhunderten gelernt, das Warten und die Geduld.

Michael Wachter saß die ganze Nacht über auf einem Schemel im Bernsteinzimmer, in völliger Dunkelheit, allein mit allen Schätzen, die nur noch diese Nacht lang Rußland gehörten. Zeit hatte er jetzt, sich zu erinnern an den letzten Zaren Nikolaus II., der 1916 mit der Zarin, dem Zarewitsch und seinen vier schönen Töchtern hier im Zimmer saß und um Rasputin, den dämonischen Mönch, weinte, den Fürst Jussopow und seine Freunde ermordet hatten. Damals war er, Wachter, 30 Jahre alt gewesen, und sein Vater Igor hatte der Zarin und den Töchtern parfümierte Taschentücher gebracht, damit sie ihre Tränen trocknen konnten. Und Silvester 1916/17, zweihundert Jahre nachdem das Bernsteinzimmer von Berlin nach St. Petersburg gebracht worden war, hatte der Zar sein letztes Fest gegeben. Und er hatte Igor Germanowitsch Wachterowskij einen Orden verliehen und zu einem Bruderkuß an sich gezogen, als habe er geahnt, daß ihn die Februar-Revolution 1917 vom Thron fegen würde, den letzten Zaren der Dynastie Romanow.

Ja, und dann — Vater Igor war an einem Lungenleiden gestorben und er, Michael Wachter, hatte mit 34 Jahren das Erbe angetreten — besuchte Lenin das Schloß, ging durch alle Säle, blieb im Bernsteinzimmer stehen, ließ den Blick fast andächtig über die schimmernde Pracht des» Sonnensteines «gleiten und hatte dann zu ihm gesagt:»Ich hasse die Zaren und ihre Ausbeutung des Volkes, aber daß sie dies geschaffen haben, macht sie leider unsterblich. «Und er, Wachter, hatte geantwortet:»Das Geschenk eines deutschen Königs ist es, Genosse Lenin. Wir haben es nur gut gepflegt.«

«Und du wirst es weiter so gut pflegen. «Lenin hatte ihm die Hand gegeben, zum Erstaunen der ihn umringenden Kommissare, denn eine große Ehre war's, die Hand des großen Wladimir Iljitsch Uljanow zu drücken, dem Vater eines neuen Rußland, des bolschewistischen Arbeiter- und Bauernstaates. Vor 21 Jahren war das. Welch eine kurze Zeit, und doch wie weit schon weg in der Erinnerung. Damals, im Jahre 1918 wurde sein Sohn Nikolaj geboren, am 17. Juli, genau an jenem Tag, an dem um ein Uhr fünfzehn in der Nacht, in der Villa Ipatiew bei Jekaterinburg, die Zarenfamilie von den Bolschewisten erschossen und in den Wäldern von Koptjakij auf einer Lichtung, die man» Zu den vier Brüdern «nannte, zerstückelt und verbrannt wurde. Dem Zaren zu Ehren hatte er seinen Sohn Nikolaus getauft, keiner wußte das, noch nicht einmal Nikolaj selbst hatte er es gestanden. Ein alter Familienname ist's, hatte er erklärt, Tradition, mein Junge, so wie alles bei uns Wachters.