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Die Hinweise in Amiels Tagebuch[20]   auf die von ihm publizierten Bücher haben mich immer unangenehm berührt. Seine ganze Gestalt erfährt dadurch einen Bruch. Wie groß wäre er sonst gewesen!

Das Tagebuch Amiels hat mich immer um meinetwillen geschmerzt.

Als ich an die Stelle kam, an der er sagt, daß Scherer[21]   die Frucht des Geistes als »Bewußtsein des Bewußtseins« beschrieben hat, empfand ich das als direkte Anspielung auf meine Seele.

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Auf diese vage, fast unwägbare Schadenfreude, die jedes menschliche Herz angesichts fremden Schmerzes und fremder Bedrängnis ergreift, greife ich beim Ausloten meiner eigenen Schmerzen zurück und treibe sie so weit, daß ich sie, komme ich mir lächerlich oder schäbig vor, so genieße, als handle es sich nicht um mich, sondern um einen anderen. Durch eine merkwürdige, unglaubliche Umwandlung der Gefühle vermag ich diese boshafte, allzu menschliche Freude angesichts fremden Schmerzes und fremder Lächerlichkeit nicht zu empfinden. Angesichts der Erniedrigung anderer verspüre ich keinen Schmerz, sondern ein ästhetisches Unbehagen, eine versteckte Empörung. Und dies nicht, weil ich etwa mitfühlend wäre, sondern weil, wer sich lächerlich macht, sich nicht nur mir gegenüber lächerlich macht, sondern auch gegenüber anderen, und es ärgert mich, wenn jemand für andere lächerlich ist, es schmerzt mich, daß irgendein menschliches Wesen auf Kosten eines anderen lacht, hat es doch kein Recht dazu. Daß die anderen auf meine Kosten lachen, stört mich nicht, denn nach außen hin schützt mich ein nützlicher Panzer der Verachtung.

Gewaltiger als jede Mauer sind die haushohen Gitter, mit denen ich den Garten meines Seins so umgeben habe, daß ich die anderen zwar bestens sehe, sie aber noch besser aussperre und sie für mich immer die anderen bleiben.

Ich war in meinem Leben stets besonders darauf bedacht, jegliches Handeln zu umgehen.

Ich unterwerfe mich weder dem Staat noch dem Menschen; ich leiste passiven Widerstand. Der Staat kann mich nur als Handelnden wollen. Und solange ich nicht handle, kann ich ihm nichts geben. Da man heute keine Todesstrafe mehr verhängt, kann er mir höchstens Unannehmlichkeiten bereiten; sollte dies geschehen, muß ich meinen Geist noch stärker panzern und noch mehr in meinen Träumen leben. Doch bisher ist nichts geschehen. Der Staat hat mich nie belästigt. Ich glaube, das Schicksal hat dafür Sorge tragen können.

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Wie jeder Mensch von großer geistiger Beweglichkeit empfinde ich eine organische, verhängnisvolle Liebe zur Seßhaftigkeit. Ich verabscheue neue Leben und unbekannte Orte.

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Die Vorstellung zu reisen erfüllt mich mit Ekel.

Ich habe bereits alles gesehen, was ich nie gesehen habe.

Ich habe bereits alles gesehen, was ich noch nicht gesehen habe.

Der Überdruß des beständig Neuen, der Überdruß, hinter der trügerischen Verschiedenheit von Dingen und Ideen die ewige Gleichheit von allem zu entdecken, die völlige Ähnlichkeit von Moschee, Tempel und Kirche, die Gleichwertigkeit von Hütte und Schloß, den gleichen Körperbau: sei es der eines Königs in seinen Kleidern oder der eines Wilden in seiner Nacktheit, die ewige Übereinstimmung des Lebens mit sich selbst, den Stillstand all dessen, das ich in der Bewegung erlebe, zu der es verurteilt ist.

Landschaften sind Wiederholungen. Auf einer schlichten Zugfahrt bin ich beängstigend sinnlos hin- und hergerissen zwischen meinem Desinteresse für die Landschaft und meinem Desinteresse für das Buch, das mir die Zeit vertriebe, wäre ich ein anderer. Ich verspüre einen unbestimmten Ekel vor dem Leben, und jede Bewegung verstärkt ihn noch.

Nur Landschaften, die nicht existieren, und Bücher, die ich nie lesen werde, sind nicht ermüdend. Das Leben ist für mich ein Dämmerzustand, der mein Gehirn nicht erreicht. Ich halte es mir frei, damit ich dort traurig sein kann.

Ach, sollen die reisen, die nicht existieren! Für den, der so wenig ist wie ein Fluß, muß Dahinfließen das Leben sein. Doch alle, die denken, fühlen und wachsam sind, läßt die schreckliche Hysterie der Züge, Automobile und Schiffe weder schlafen noch wach sein.

Von jeder Reise, selbst einer noch so kurzen, kehre ich zurück wie aus einem Schlaf voller Träume, benommen, verwirrt, mit ineinander verwobenen Empfindungen, trunken von Gesehenem.

Zur Entspannung fehlt mir die Gesundheit der Seele. Zum Mich-Bewegen fehlt mir etwas zwischen Seele und Körper; nicht das Bewegen verweigert sich mir, sondern das Verlangen nach ihm.

Wie oft hatte ich nicht den Wunsch, den Fluß zu überqueren, diese zehn Minuten vom Terreiro do Paço nach Cacilhas. Und fast immer überkam mich gleichsam die Scheu vor den vielen Menschen, vor mir selbst und meinem Vorhaben. Das ein oder andere Mal bin ich hinübergefahren, stets mit einem Gefühl der Beklemmung, und stets habe ich den Fuß erst richtig an Land gesetzt, wenn ich wieder zurück war.

Für den, der zu stark empfindet, ist der Tejo ein endloser Atlantik und Cacilhas ein anderer Kontinent oder ein anderes Universum.

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Verzicht ist Befreiung. Nicht wollen ist können. Was kann mir China geben, das meine Seele mir. nicht schon gegeben hätte? Und wenn meine Seele es mir nicht geben kann, wie dann kann China es mir geben, da ich China mit meiner Seele sehen werde, falls ich es sehen sollte! Ich könnte im Orient nach Reichtum suchen, nicht aber nach dem Reichtum der Seele, denn der Reichtum meiner Seele bin ich, und ich bin, wo ich bin, mit oder ohne Orient.

Ich verstehe, daß reisen muß, wer unfähig ist zu fühlen. Daher sind Reisebücher auch so arm an Erfahrung, sie taugen nur so viel wie die Vorstellungskraft dessen, der sie schreibt. Besitzt der Schreiber Vorstellungskraft, kann er uns verzaubern, und dies ebenso mit der detaillierten, photographisch genauen Beschreibung von Landschaften, die er sich vorstellte, wie mit der zwangsläufig weniger detaillierten Beschreibung von Landschaften, die er zu sehen vermeinte. Wir alle sind kurzsichtig, ausgenommen nach innen. Nur unsere Traumaugen brauchen keine Brille.

Unsere irdische Erfahrung kennt im Grunde nur zweierlei: das Allgemeine und das Besondere. Das Allgemeine beschreiben heißt das beschreiben, was allen menschlichen Seelen und aller menschlichen Erfahrung gemein ist: den weiten Himmel mit Tag und Nacht, die an ihm und durch ihn werden; das Fließen der Flüsse, alle von gleich jungfräulich frischem Wasser; die Meere, weit wogende Wellenberge, die Majestät der Höhe im Geheimnis der Tiefe bewahrend; die Jahreszeiten, Felder, Gesichter und Gesten; die Verkleidungen und das Lächeln; die Liebe und den Krieg; die Götter, gleichermaßen endlich und unendlich; die gestaltlose Nacht, Mutter des Weltenursprungs, das Fatum, jenes geistige Ungeheuer, das alles ist … Beschreibe ich dies oder etwas ähnlich Allgemeines, spricht meine Seele die primitive, göttliche Sprache, das Idiom Adams, das alle verstehen. Doch welch wirre, babylonische Sprache müßte ich sprechen, wollte ich den Santa-Justa-Aufzug[22]   in Lissabon, die Kathedrale von Reims, die Hosen der Zuaven oder die Art beschreiben, wie man Portugiesisch in der Provinz Trás-os-Montes spricht? Dies sind Unebenheiten an der Oberfläche, fühlbar mit unseren Füßen, nicht aber mit unserem Kopf. Das Allgemeine am Santa-Justa-Aufzug ist die Mechanik, die uns das Leben erleichtert. Das Wahre an der Kathedrale von Reims ist weder die Kathedrale noch Reims, sondern die religiöse Majestät von Bauwerken, die dem Erkennen der menschlichen Seelentiefe gewidmet sind. Ewig an den Hosen der Zuaven ist die mit ihnen verbundene farbige Vorstellung von Trachten, eine menschliche Sprache, deren gesellschaftliche Einfachheit in gewisser Weise eine neue Nacktheit ist. Das Allgemeine an unterschiedlichen Mundarten ist der heimische Stimmklang von spontan lebenden Leuten, die Verschiedenheit einander naher Menschen, das bunte Erbe der Lebensweisen, die Unterschiedlichkeit der Völker und die große Vielfalt der Nationen.