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Heute traf ich nacheinander auf der Straße zwei meiner Freunde, die sich zerstritten hatten. Jeder erzählte mir, wie es zu dem Streit gekommen war. Jeder sagte mir die Wahrheit. Jeder legte mir seine Gründe dar. Beide waren im Recht. Beide waren vollkommen im Recht. Keiner sah etwas, das der andere nicht gesehen hätte, keiner sah die Sache von nur einer Seite. Nein, jeder sah den Sachverhalt so, wie er war, jeder sah ihn unter dem gleichen Gesichtspunkt wie der andere, doch sah ihn jeder anders, und somit hatte jeder recht.

Diese doppelte Existenz der Wahrheit verwirrte mich.

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So wie wir alle, wissend oder nicht wissend, eine Metaphysik haben, haben wir auch alle, wollend oder nicht wollend, eine Moral. Meine Moral ist überaus einfach: niemandem weder Gutes tun noch Schlechtes zufügen. Niemandem Schlechtes zufügen, nicht nur, da ich anderen das gleiche Recht wie mir zuerkenne, nämlich das Recht auf ein unbehelligtes Leben, sondern auch, da ich denke, daß das naturgegebene Übel ausreicht an notwendig Schlechtem in der Welt. Wir alle leben in dieser Welt an Bord eines Schiffes, das von einem Hafen, den wir nicht kennen, unterwegs ist zu einem Hafen, von dem wir nichts wissen, und wir müssen füreinander die Liebenswürdigkeit von Menschen aufbringen, die sich auf einer gemeinsamen Reise befinden. Niemandem Gutes tun, da ich nicht weiß, was gut ist, noch weiß, ob ich es tue, wenn ich glaube, daß ich es tue. Weiß ich denn, was ich an Schlechtem bewirke, wenn ich ein Almosen gebe? Und weiß ich, was ich an Schlechtem bewirke, wenn ich erziehe oder unterrichte? Im Zweifelsfall sehe ich davon ab. Zudem glaube ich, daß helfen oder aufklären in gewisser Weise zu einem üblen Eingreifen in fremde Leben wird. Die Güte ist eine Laune des Temperaments: Es steht uns nicht an, andere zu Opfern unserer Launen zu machen, auch wenn dies Zeichen von Menschlichkeit und Zärtlichkeit sind. Wohltaten sind etwas, das man aufdrängt; daher lehne ich sie rundweg ab.

Wenn ich nicht aus moralischer Überzeugung Gutes tue, erwarte ich solches auch nicht von anderen. Erkranke ich, belastet mich vor allem der Gedanke, es könnte sich jemand veranlaßt fühlen, mich zu pflegen, etwas, das ich nur äußerst ungern für einen anderen täte. Ich habe nie einen kranken Freund besucht. Und wann immer ich krank war und man mich besuchte, empfand ich einen solchen Besuch als störend, beleidigend und ungerechtfertigten Eingriff in meine ureigene Privatsphäre. Ich mag es nicht, wenn man mir etwas schenkt; es ist als nötige man mich, ebenfalls etwas zu schenken – den Gebern oder anderen oder wem auch immer.

Ich bin äußerst gesellig, auf eine äußerst negative Weise. Ich bin die Verträglichkeit in Person. Aber mehr als das bin, will und kann ich nicht sein. Ich empfinde allem Existierenden gegenüber eine visuelle Zuneigung, eine rationale Zärtlichkeit – nichts im Herzen. Ich glaube an nichts, hoffe auf nichts, liebe nichts. Sie ekeln und erstaunen mich, die Aufrichtigen aller Aufrichtigkeiten, die Mystiker aller Mystizismen, oder genauer, die Aufrichtigkeit aller Aufrichtigen und die Mystizismen aller Mystiker. Dieser Ekel wird fast physisch, wenn diese Mystizismen aktiv werden, wenn sie versuchen, andere Menschen zu überzeugen oder dahin gehend zu beeinflussen, daß sie die Wahrheit finden oder die Welt verändern wollen.

Ich betrachte mich als glücklich, keine Familie mehr zu haben. Somit sehe ich mich nicht verpflichtet, jemanden zu lieben, dies würde mich unweigerlich belasten. Sehnsucht verspüre ich nur literarisch. Ich entsinne mich meiner Kindheit unter Tränen, aber es sind rhythmische Tränen, in denen sich die Prosa bereits abzeichnet. Ich erinnere mich ihrer als etwas Äußeres und durch etwas Äußeres; ich erinnere mich äußerer Dinge. Nicht die Stille der Abende auf dem Land läßt mich meine Kindheit gerührt wiedererleben, es ist das Decken des Tisches für den Tee, es sind die Möbel ringsum, die Gesichter und Bewegungen der Menschen. Ich verspüre Sehnsucht nach Bildern. Daher vermag mich eine fremde Kindheit ebenso zu rühren wie meine eigene: Beide sind rein visuelle Phänomene einer für mich unergründlichen Vergangenheit, deren Wahrnehmung für mich rein literarischer Art ist. Ich bin gerührt, ja, aber nicht, weil ich mich erinnere, sondern weil ich sehe.

Ich habe nie jemanden geliebt. Das Äußerste, was ich je geliebt habe, sind meine eigenen Wahrnehmungen – Zustände bewußten Sehens, Eindrücke wachen Hörens, Düfte, mittels derer die bescheidene Außenwelt zu mir von vergangenen Dingen spricht (so leicht zu erinnern durch Gerüche) –, die mir mehr Wirklichkeit, mehr Gefühl vermitteln als die schlichte Tatsache, daß hinten in der Bäckerei Brot bäckt, wie an jenem fernen Nachmittag, als ich von der Beerdigung meines Onkels kam, der mich so sehr geliebt hatte, und ich eine Art zärtlicher Erleichterung verspürte, ohne recht zu wissen worüber.

Das ist meine Moral oder meine Metaphysik, oder anders gesagt, das bin ich: Einer, der an allem vorübergeht – selbst an meiner eigenen Seele –, ich gehöre zu nichts, ich wünsche nichts, ich bin nichts – abstrakter Mittelpunkt unpersönlicher Wahrnehmungen, zu Boden gefallener, sehender Spiegel, der Vielfalt der Welt zugekehrt. Bei alledem weiß ich nicht, ob ich glücklich oder unglücklich bin; und es ist mir auch einerlei. (1931 in der Zeitschrift Descobrimento veröffentlicht)

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Zusammenarbeiten, sich zusammentun, gemeinsam mit anderen handeln ist metaphysisch gesehen ein krankhafter Impuls. Die Seele, die jedem einzelnen gegeben ist, darf nicht für seine Beziehungen zu anderen herhalten. Die göttliche Tatsache, zu existieren, darf nicht der satanischen Tatsache, zu koexistieren, anheimgegeben werden.

Handle ich gemeinsam mit anderen, geht mir zumindest eines verlustig: alleine zu handeln.

Vertraue ich mich anderen an, mache ich mich klein, auch wenn ich mich scheinbar vergrößere. Zusammenleben heißt sterben. Einzig mein Bewußtsein von mir selbst ist für mich wirklich; andere sind in diesem Bewußtsein ungewisse Phänomene, und es wäre krankhaft, ihnen eine allzu wirkliche Wirklichkeit zu verleihen.

Kinder, die ihren Willen um jeden Preis durchsetzen wollen, sind Gott näher, denn sie wollen existieren.

Unser Erwachsenenleben beschränkt sich darauf, Almosen zu geben. Wir alle leben von fremden Almosen. Wir vergeuden unsere Persönlichkeit mit Orgien der Koexistenz.

Jedes gesprochene Wort verrät uns. Die einzig annehmbare Form der Verständigung ist das geschriebene Wort, denn es ist kein Stein in einer Brücke zwischen Seelen, sondern ein Lichtstrahl zwischen Sternen.

Erklären heißt nicht glauben. Jede Philosophie ist eine Diplomatie unter dem Signum der […] Ewigkeit; wie die Diplomatie ist sie eine dem Wesen nach falsche Sache, die nicht als Sache existiert, sondern als etwas ganz und gar Zweckgerichtetes.

Für einen Dichter, der veröffentlicht, gibt es kein würdigeres Schicksal als das Nicht-Erlangen des ihm vielleicht gebührenden Ruhms. Mit Ausnahme des wahrlich würdigen Schicksals des Nicht-Veröffentlichens. Ich sage nicht, daß er nicht schreiben sollte, dann wäre er kein Dichter. Ich meine den Dichter, der schreibt, weil dies seiner Natur entspricht, dessen geistige Beschaffenheit ihn aber davon abhält, zu zeigen, was er schreibt.

Schreiben heißt Träume in eine zugängliche Form bringen, heißt eine äußere Welt erschaffen als sichtbare Belohnung [?] unserer schöpferischen Wesensart. Veröffentlichen heißt diese äußere Welt anderen geben; aber wozu, wenn die ihnen und uns gemeinsame Außenwelt die wirkliche »Außenwelt« ist, die stoffliche, sichtbare, greifbare Welt? Doch was haben die anderen mit dem Universum in mir zu tun?