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Und genau dorthin wünschte Warstein Franke in diesem Moment auch. Er hatte eine ziemlich konkrete Vorstellung davon, warum Franke ihm von den Kommunikationsproblemen mit Trupp neunzehn erzählte. Zum einen natürlich, weil Dr. Gerhard S. Franke, sein ehemaliger Lehrer und Mentor - wobei die Betonung eindeutig auf dem ehemalig lag -, ein ausgemachter Blödmann war, der kein größeres Vergnügen kannte, als anderen seine Probleme aufzuhalsen und die Lorbeeren für sich zu beanspruchen, wenn sie sie lösten. Und zum anderen natürlich, weil er, Warstein, die modifizierten Walkie-talkies entwickelt hatte, mit denen die Verbindung zwischen der Bauleitung und den Arbeitskolonnen im Inneren des Berges aufrechterhalten wurde. Es waren phantastische Konstruktionen, die, mit der entsprechenden Leistung betrieben, tatsächlich bis zum Mond gereicht hätten. Sie hatten nur einen winzigkleinen Fehler: sie funktionierten überall - nur im Inneren des Gridone nicht.

Warstein schaltete mit einer resignierenden Bewegung den Computer aus und massierte mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand seine Nasenwurzel, ehe er antwortete. Er war müde. Vor seinen Augen drehten sich grüne Glühwürmchen, wenn er die Lider schloß, und er hatte ganz leichte Kopfschmerzen; eindeutige Beweise dafür, daß er zu lange gearbeitet hatte. Neun Stunden konzentriertes Sitzen am Computer waren einfach zuviel, selbst für einen jungen Mann wie ihn, der gerade seinen dreißigsten Geburtstag hinter sich gebracht hatte und eigentlich vor lauter Energie aus den Nähten platzen sollte. Frankes Störung kam ihm nicht einmal so unrecht. Die letzten beiden Stunden hätte er sich im Grunde schenken können. Statt sie zu beseitigen, hatte er allem Anschein nach noch ein paar Fehler in das Computerprogramm hineingeschrieben, an dem er seit dem frühen Morgen gearbeitet hatte.

»Also gut, Trupp neunzehn antwortet nicht«, sagte er. »Und was habe ich damit zu tun?« Wahrscheinlich hatten sie die Funkgeräte abgeschaltet und spielten eine Runde Doppelkopf, dachte er mißmutig. Es wäre nicht das erste Mal.

»Irgend jemand muß in den Berg fahren und die Funkgeräte überprüfen«, sagte Franke in einem fröhlichen Ton, für den allein Warstein ihm am liebsten die Zähne eingeschlagen hätte. »Und da Sie am meisten von den Geräten verstehen...«

»...haben Sie mir diese wichtige Aufgabe zugedacht, ich verstehe«, maulte Warstein. Er war nicht im mindesten überrascht. Das wäre er höchstens gewesen, hätte Franke diesen Vorschlag nicht gemacht - der im übrigen kein Vorschlag war, sondern ein eindeutiger Befehl. Der Tag würde kommen, dachte Warstein, an dem er ein für allemal klären würde, ob Franke wirklich berechtigt war, ihm Befehle zu erteilen. Er mußte nur erst jemanden finden, der ihm diese Frage beantworten konnte. Abgesehen davon, daß Franke ein ausgemachter Blödmann und Aufschneider war, war er nämlich auch noch der Leiter des gesamten Tunnelbauprojektes - soweit ihm seine diversen anderen Aktivitäten Zeit dafür ließen.

»Natürlich nur, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, antwortete Franke fröhlich.

»Natürlich«, knurrte Warstein. Wie hätte er auch etwas anderes annehmen können?

»Sie sehen ein bißchen müde aus. Kann es sein, daß Sie zuviel arbeiten?« An zu vielen unsinnigen Projekten, von denen ich nichts habe? Das sprach er nicht laut aus, aber es leuchtete in Neonbuchstaben in seinen Augen.

Warstein schluckte seinen Ärger mühsam herunter. »Tun wir das nicht alle?«

»Sicher. Trotzdem sollten Sie ein bißchen mehr auf sich aufpassen.« Franke hob die Hand und drohte ihm spielerisch mit dem Zeigefinger. »Sie tun niemandem einen Gefallen, wenn Sie bis zum Zusammenbruch arbeiten und dann eine Woche lang auf der Nase liegen, junger Freund. Ich weiß Ihren Enthusiasmus zu schätzen, aber Sie sollten ab und zu einen Blick in den Spiegel werfen.«

»So?« fragte Warstein einsilbig. Er warf einen letzten Blick auf seinen Computer und überzeugte sich davon, daß alles ordnungsgemäß abgeschaltet und verriegelt war. Während er sprach, war Franke hinter ihn getreten, angeblich ohne besonderen Grund, in Wahrheit aber ganz zweifellos, um einen Blick auf seinen Monitor und das Programm darauf zu werfen. Warstein zweifelte auch keine Sekunde daran, daß Franke das Terminal wieder einschalten und darin herumschnüffeln würde, kaum daß er fort war. Sollte er. An dem System von Paßwörtern und Codeabfragen, das er in den letzten Tagen installiert hatte, würde er sich die Zähne ausbeißen. Franke platzte geradezu vor Neugier, was den Fortgang seiner Arbeit anbetraf. Warstein schwieg sich beharrlich darüber aus. Natürlich hätte Franke ihm einfach befehlen können, ihm alles zu zeigen, aber das würde er niemals tun. Das war nicht seine Art.

»Sie sehen aus wie der Tod auf Latschen, mein Junge«, sagte Franke. Er wußte natürlich genau, wie sehr es Warstein ärgerte, wenn er ihn so nannte, und wahrscheinlich war das der einzige Grund, warum er es überhaupt tat. Dabei hatte er durchaus das Recht dazu - unabhängig davon, daß er keinen Tag älter als fünfundvierzig aussah, hätte er bequem Warsteins Vater sein können. Aber das Verhältnis zwischen Schülern und ihren ehemaligen Lehrern war manchmal recht kompliziert; zumal, wenn die Schüler heranwuchsen und irgendwann einmal besser waren als ihre Lehrer. Warstein war besser als Franke. Warstein wußte es. Alle hier wußten es. Was die Sache schlimm machte, war, daß Franke es auch wußte.

»Es ist eine Schande«, fuhr Franke fort. »Dabei befinden wir uns hier an einem der schönsten Flecken Europas, wenn nicht der ganzen Welt. Eine Menge Leute bezahlen Unsummen dafür, hier Urlaub machen zu dürfen. Und was tun Sie?«

»Ich bohre Löcher hinein«, antwortete Warstein und stand auf.

»Und in Ihre Gesundheit gleich mit«, fügte Franke hinzu. »Sie machen jetzt Schluß, und das ist kein guter Rat, sondern ein dienstlicher Befehl. Schnappen Sie sich einen Wagen und fahren Sie in den Tunnel, um nach den Funkgeräten zu sehen, und den Rest des Tages nehmen Sie sich frei.«

Was alles in allem garantiert länger dauerte, als seine Arbeit hier zu Ende zu bringen, dachte Warstein verärgert. Der Tunnel hatte mittlerweile die Fünf-Kilometer-Grenze überschritten. Er würde allein für den Weg hin und wieder zurück eine Stunde brauchen, die Zeit gar nicht mitgerechnet, die er benötigte, um nach den Geräten zu sehen. Arschloch.

Er hätte protestieren können, und das vermutlich sogar mit Erfolg. Schließlich war er Diplomingenieur, kein Elektriker. Aber er verzichtete darauf, und Franke wäre wahrscheinlich höchst erstaunt gewesen, hätte er den Grund dafür gekannt. Der Ausflug in den Berg kam ihm eigentlich nur recht. Bis er zurück war, würde es spät sein, und er war schon jetzt so müde, daß er zweifellos sofort ins Bett fallen und auf der Stelle einschlafen würde; ein weiterer gewonnener Abend, an dem er nicht Ewigkeiten wach auf seinem Bett lag und darauf wartete, daß ihm die Augen zufielen.

Franke täuschte sich, wenn er glaubte, daß er die Schönheit dieses Fleckchens Erde nicht zu schätzen wußte. Ganz im Gegenteil. Warstein war sicher, daß dies einer der herrlichsten Orte war, die es auf diesem ganzen Planeten gab. Die Aussicht vom Rande des zum Teil künstlich aufgeschütteten Plateaus, auf dem sich die Barackensiedlung erhob, war phantastisch - selbst bei schlechter Sicht konnte man den gesamten Lago Maggiore und einen guten Teil des dahinterliegenden Italien überblicken, und bei klarer Witterung reichte der Blick manchmal bis zum Meer. Manche behaupteten, daß die italienische Seite der Alpen einen nicht ganz so grandiosen Anblick böte wie die schweizerische, aber das stimmte nicht. Vielleicht gab es hier nicht unbedingt die größten Berge, aber sie hatten etwas Gewaltiges, das nichts mit meßbarer Größe zu tun hatte. Nein, er liebte diesen Ort - aber er haßte die Abende hier.