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Benommen richtete er sich auf. In seiner Brust war ein pochender Schmerz. Das Atemholen tat ein bißchen weh, aber er schien relativ unverletzt davongekommen zu sein - ebenso wie die beiden anderen, die sich in diesem Moment ebenfalls aufrappelten. Angelika war nur auf die Knie gefallen, während Lohmann durch die Wucht des Anpralles vom Sitz gerutscht und in den Fußraum unter dem Armaturenbrett gestürzt war. Fluchend und schimpfend stemmte er sich hoch, rutschte ab und landete ein zweites Mal auf dem Boden, so daß Warstein trotz des Ernstes ihrer Lage ein flüchtiges, schadenfrohes Lächeln nicht ganz unterdrücken konnte. »Alles in Ordnung?« fragte er.

Lohmann arbeitete sich mühsam wieder auf seinen Sitz hoch und versuchte dabei Warstein möglichst mit Blicken aufzuspießen. »Ja«, maulte er. »Aber das liegt bestimmt nicht an Ihren Fahrkünsten.«

Warstein enthielt sich vorsichtshalber jeden Kommentares. Sein Grinsen entsprang ohnehin mehr einem Gefühl der Hysterie als irgend etwas anderem, und was er in der unheimlichen, flackernden Beleuchtung draußen sah, trug auch nicht unbedingt dazu bei, seine Furcht zu mildern. Einer der Scheinwerfer war zerbrochen, der andere leuchtete schräg auf den Boden, aber das Licht reichte trotzdem aus, ihn erkennen zu lassen, daß sie den Betonpfeiler fast aus dem Fundament gerissen hatten. Er stand schräg und hatte ein Gutteil des Zaunes und einen der beiden Torflügel mitgerissen, so daß eine Lücke entstanden war, durch die sie bequem hindurchschlüpfen konnten. Dabei waren sie nicht einmal besonders schnell gefahren - wären sie es, hätten sie den Aufprall garantiert nicht so unverletzt überstanden, denn keiner von ihnen war angeschnallt gewesen. Der Zaun schien sich in einem ebenso schlechten Zustand zu befinden wie das erste Hindernis, auf das sie weiter oben an der Straße gestoßen waren. Und das, obwohl auch er auf keinen Fall älter als drei Jahre sein konnte.

»Von jetzt ab müssen wir wohl zu Fuß gehen«, sagte Angelika.

Warstein zögerte einen Moment, die Tür zu öffnen. Ohne daß er es bisher selbst gemerkt hatte, war der Wagen mehr und mehr zu einer Festung geworden; eine der letzten Bastionen der Wirklichkeit, deren Wände dem Irrsinn, dem die Welt draußen anheimgefallen war, noch trotzten. Ihn zu verlassen bedeutete, ihren letzten Schutz aufzugeben. Auch wenn er wußte, daß dieser Schutz nur in seiner Einbildung bestand - was immer dort draußen war, würde sich nicht durch millimeterdünnes Blech und Glas aufhalten lassen. Er fragte sich, ob das Ding, das er gesehen hatte, ihnen wohl gefolgt war.

Hintereinander kletterten sie aus dem Wagen. Es war empfindlich kalt geworden. Angelika schmiegte sich instinktiv an Warstein, und er hob ebenso instinktiv den Arm und legte ihn um ihre Schulter, während Lohmann um den Wagen herumging und den Schaden begutachtete. Es war vollkommen überflüssig - der Wagen würde nirgendwo mehr hinfahren. Warstein wußte, daß der Tunneleingang noch Kilometer entfernt lag. Obwohl sich die Straße seit seinem letzten Hiersein drastisch verändert hatte, erkannte er seine Umgebung doch wieder.

»Was tun Sie da eigentlich?« fragte er gereizt, als sich Lohmann in die Knie sinken ließ und mit beiden Händen an der verbogenen Stoßstange herumzerrte.

»Ich schaue mir an, was Sie angerichtet haben«, antwortete Lohmann. »Respekt. Wenn die Sache hier schiefgeht, können Sie sich immer noch um einen Job als Crash-Fahrer bemühen. Ich schreibe Ihnen gern eine Empfehlung.« Er richtete sich ächzend auf, wischte die Handflächen an seiner Jacke sauber und gesellte sich zu ihnen. Sein Blick glitt mißtrauisch über das halb aus den Angeln gerissene Gittertor, und als Warstein losgehen wollte, hob er abwehrend die Hand.

»Vorsicht«, sagte er. »Sehen Sie!«

Warsteins Blick folgte seiner Geste. Er erkannte einen dünnen, silbern schimmernden Draht, der oben auf dem Zaun entlanglief. In regelmäßigen Abständen waren halbrunde Isolatoren aus weißem Porzellan angebracht. »Der Zaun steht unter Strom«, sagte Lohmann. »Wahrscheinlich funktioniert er nicht mehr. Paßt trotzdem auf!«

Daß er diese Worte sagen konnte, war allein schon der Beweis für ihre Richtigkeit, dachte Warstein. Hätte der Zaun noch unter Spannung gestanden, als sie dagegen fuhren, wären sie vermutlich allesamt gegrillt worden. Trotzdem beunruhigte ihn der Anblick des Drahtes ungemein. Der Zaun weiter oben an der Straße mochte eine normale Sicherheitsmaßnahme sein, um Neugierige fernzuhalten. Das hier war tödlicher Ernst.

Um so erstaunlicher erschien es ihm, daß sie überhaupt so weit gekommen waren. Mit Ausnahme des Zaunes selbst und des verrosteten Autowracks weiter oben an der Straße hatten sie bisher keine Spur menschlichen Lebens entdeckt - und das war schon mehr als seltsam. Aber im Grunde war hier ja nichts so, wie es sein sollte.

Lohmann war der erste, der sich vorsichtig durch die Lücke im Zaun schob. Er achtete peinlich darauf, das Metall nicht zu berühren und entfernte sich rasch zwei Schritte von dem Hindernis, nachdem er auf der anderen Seite war.

Angelika und Warstein folgten ihm auf die gleiche Weise.

Auf der anderen Seite des Zaunes wurde die Straße wieder schlechter. Man sah ihr an, daß sie seit langer Zeit nicht mehr befahren und seit noch längerer Zeit nicht mehr instand gehalten worden war. Der Asphalt hatte sich in ein Muster aus unterschiedlich großen, wassergefüllten Löchern verwandelt, und die Straßendecke war überall gerissen, Unkraut und Wurzeln hatten den Belag gesprengt, und an einigen Stellen war der Wald schon wieder fast bis zur Straßenmitte herangewachsen. In den nächsten Jahren würde der Weg vollkommen verschwunden sein. Obwohl der Anblick Warstein hätte erschrecken sollen, bewirkte er eher das Gegenteil. Die Natur begann das verlorene Terrain mit erstaunlicher Geschwindigkeit zurückzuerobern, und dieser Gedanke erschien ihm auf eine sonderbare Weise tröstlich. Er hatte niemals wirklich darüber nachgedacht, wie die Welt ohne Menschen aussehen würde, und jetzt wußte er auch, warum. Es war nicht nötig. Während sie nebeneinander und sehr schnell die abschüssige Straße hinuntergingen, wurde ihm zum ersten Mal wirklich bewußt, wie klein und unwichtig sie waren. Es gab nichts, was sie dieser Welt wirklich antun konnten. Sie war dagewesen, lange bevor es Menschen gab, und sie würde noch dasein, lange nachdem sie fort waren.

Männer wie Franke - oder auch er selbst, noch vor wenigen Jahren - mochten der Ansicht sein, daß es in ihrer Macht stand, das Antlitz dieses Planeten nachhaltig zu verändern, aber das stimmte nicht. Die Menschen mit all ihrer Technik und Wissenschaft waren trotz allem kaum mehr als Mikroben, winzige Teile eines gigantischen Systems, das so groß, so komplex und so ewig war, daß sie sein wahres Aussehen nicht einmal erraten konnten. Warstein empfand diesen Gedanken als ungemein tröstlich. Zum ersten Mal überhaupt glaubte er zu fühlen, was Leben wirklich bedeutete. Es war das Sein selbst. Die bloße Tatsache, daß etwas existierte, bedeutete, daß es Teil dieses allumfassenden, das gesamte Universum umspannenden Systems von Leben war. Warstein fühlte sich der Natur und jenem abstrakten Begriff, den die meisten Menschen als Gott bezeichneten, so nahe wie niemals zuvor und nie wieder danach, und es war ein Empfinden unvorstellbarer Sicherheit und Wärme. Vor einigen Minuten noch hatte er um sein Leben gefürchtet, aber jetzt wußte er, wie naiv dieser Gedanke gewesen war. Es spielte keine Rolle, ob er als Person weiterlebte oder nicht - er war Teil eines gewaltigen, unzerstörbaren Systems, das bis zum Ende der Zeit fortbestehen würde, und vielleicht darüber hinaus. Er war nie ein religiöser Mensch gewesen, sondern hatte sich selbst gern und bei jeder sich bietenden Gelegenheit als Agnostiker bezeichnet, doch nun sah er ein, daß auch das falsch war. Vielleicht gab es keinen Gott als Person, sicher keinen lenkenden Intellekt, der hinter den Dingen stand und über sie wachte, aber da war eine übergeordnete Macht, ein großer Plan, der die Gesetze des Universums ordnete.