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Warstein gönnte sich den kleinen Luxus, sich einen Augenblick lang an dem Ausdruck von Fassungslosigkeit zu weiden, der sich auf Lohmanns Gesicht ausbreitete, ehe auch er sich wieder umwandte. Und während er es tat, geschah etwas sehr Unheimliches. Für jene winzige Zeitspanne, die sein Blick brauchte, um das Geschöpf zu Angelikas Füßen zu fokussieren, war es wieder die mörderische Kreatur, die Lohmann verfolgt hatte. Es ging zu schnell, um den Anblick wirklich zu erfassen; ein einzelnes Bild, das nicht in sein Bewußtsein drang, aber ein Gefühl tiefer Beunruhigung in ihm hinterließ, das auch nicht wich, als er das Geschöpf wieder so sah, wie es wirklich war.

Aber war es das überhaupt?

»Was ist das?« flüsterte Lohmann. Er ließ sich in die Hocke sinken und streckte die Hände nach dem goldfarbenen Fell aus. Als er es berührte, schien ein unmerkliches Zucken durch den reglosen Körper zu laufen. Er bewegte sich nicht wirklich. Es war, als betrachteten sie eine Spiegelung auf klarem Wasser, dessen Oberfläche für einen kurzen Moment vom Wind gekräuselt wurde.

Warstein war nicht der einzige, der es bemerkte. Lohmann zog erschrocken die Hand zurück, und Warstein war nicht einmal erstaunt, daß das Zittern ebenso plötzlich wieder aufhörte, wie es begonnen hatte.

»Es stirbt«, sagte Angelika. Ihre Stimme bebte, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie versuchte nicht, dagegen anzukämpfen. »Seht doch, es stirbt.« Ihre Finger strichen über das knisternde Fell, und dort, wo sie es berührten, leuchtete der goldene Glanz noch einmal intensiver auf, als verleihe ihm die bloße Berührung noch einmal Lebenskraft. Doch wenn es so war, dann reichte das, was Angelika dem sterbenden Geschöpf gab, nicht aus. Sein Glanz verblaßte mehr und mehr.

»So etwas habe ich noch nie gesehen!« sagte Lohmann. »Was ist das für ein Tier?«

»Es ist kein Tier«, antwortete Warstein. Er sprach ganz leise. Der Moment hatte etwas beinahe Heiliges, und lautes Reden konnte ihn zerstören. »Es kommt von drüben. Von der anderen Seite.«

»Es kann hier nicht leben«, sagte Angelika traurig. Tränen liefen über ihr Gesicht. »Unsere Welt bringt es um.«

Der goldene Glanz der Kreatur war jetzt kaum noch zu erkennen. Sie war noch immer schön, unbeschreiblich schön und majestätisch, aber sie war nur noch ein sterbender Engel. Nur dort, wo Angelikas Hand sie berührte, war noch ein Rest des goldenen Schimmerns zu erkennen.

Der Anblick brachte Warstein auf eine Idee. Obwohl ihm der Gedanke selbst fast absurd erschien, streckte auch er beide Hände aus und legte sie fest auf den Körper des sterbenden Wesens. Er fühlte ein sanftes Kribbeln und etwas wie einen vagen Schmerz, der nicht sein eigener zu sein schien. »Helft ihm«, sagte er. Nicht mehr, begriff er doch selbst nicht wirklich, was er tat. Trotzdem schien zumindest Angelika zu verstehen, denn auch sie berührte das Wesen nun mit beiden Händen, und nach einer Sekunde des Zögerns tat Lohmann das gleiche, auch wenn Warstein ihm ansah, daß er insgeheim wohl an seinem Verstand zweifelte.

»Es wird nicht sterben«, sagte er. »Wir können ihm helfen.«

Und das taten sie. Er wußte nicht, was geschah, geschweige denn, was sie taten. Aber er spürte, wie irgend etwas in der sterbenden Kreatur wieder erwachte, und nur einen Augenblick später sah er es auch. Unter ihren Händen erwachte der sanfte goldene Glanz des Wesens zu neuem Leben. Warstein fühlte, wie sich das Fell erwärmte, die Kälte des Todes, die schon fast vollkommen von dem Geschöpf Besitz ergriffen hatte, sich widerwillig zurückzog und neuem, pulsierendem Leben Platz machte. Er dachte nicht darüber nach. Er gestattete sich nicht einmal, Erleichterung oder auch nur Erstaunen zu empfinden. Alles, wofür in seinem Denken Platz war, war der intensive Wunsch, das Geschöpf zu retten. Ihm etwas von ihrer Lebenskraft zu geben.

Es gelang ihnen. Zuerst langsam, doch dann immer schneller und schneller löste sich die eisige Umarmung des Todes, und schließlich zogen zuerst Warstein und dann die beiden anderen ihre Hände zurück. Der Glanz blieb. Das Geschöpf bewegte sich, ein fließendes, seidiges Rascheln und Gleiten einer Form, die zu fremd und anders war, um sie wirklich zu erkennen. Für einen kurzen Moment wurde sein Glanz so intensiv, daß Warstein geblendet die Augen schloß und den Blick abwandte.

Als er die Lider wieder hob, war das Wesen verschwunden. Nur ein flüchtiger Schimmer blieb noch in der Luft zurück, dann erlosch auch er, und sie waren wieder allein. Ein Gefühl tiefer Zufriedenheit breitete sich in Warstein aus. Er konnte immer noch nicht sagen, was sie getan hatten, aber es war etwas Gutes gewesen, etwas Richtiges, und das allein zählte in diesem Moment.

Es war Lohmann, der den Augenblick beendete und sie wieder in die Wirklichkeit zurückholte. »Glauben Sie nicht, daß Sie mir allmählich die eine oder andere Erklärung schuldig sind?« fragte er.

»Wenn Sie wissen wollen, was das für ein Wesen war, dann muß ich Sie enttäuschen«, antwortete Warstein. Etwas von dem Frieden und der Sanftmut der Kreatur war noch in ihm zurückgeblieben, denn er war nicht einmal wirklich verärgert über Lohmanns Frage. »Ich weiß es nicht.«

»Dafür, daß Sie nichts wissen, wissen Sie eine Menge«, erwiderte Lohmann scharf. »Was um Gottes willen haben Sie getan?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Warstein noch einmal. »Ich wollte einfach nicht, daß es stirbt.«

»So?« machte Lohmann. »Einfach so, wie?«

»Einfach so«, bestätigte Warstein. Aber das war nicht die Wahrheit. Tief in sich wußte er, was geschehen war. Und nicht erst seit diesem Moment. Der Gedanke war so phantastisch, daß er es selbst jetzt noch nicht über sich brachte, ihn laut auszusprechen.

»Nur weil Sie es wollten?« Lohmann lachte nervös.

»Ja. So, wie das Radio wieder funktioniert hat, weil Sie es wollten«, bestätigte Warstein. »Und im gleichen Moment wieder ausgefallen ist, in dem Sie es sich gewünscht haben.«

Lohmann blinzelte ein paarmal. Er setzte dazu an, etwas zu sagen, schüttelte aber dann nur den Kopf und blickte auf die Stelle herab, an der das Wesen gelegen hatte.

»Erinnern Sie sich«, fuhr Warstein fort. Die Worte galten viel mehr ihm selbst als dem Journalisten oder Angelika. Der Gedanke kam ihm selbst noch immer so phantastisch und bizarr vor, daß sich sein Verstand mit aller Macht dagegen wehrte, ihn zu akzeptieren. Er mußte es laut aussprechen, nicht um Lohmann oder Angelika, sondern um sich selbst davon zu überzeugen, daß es so war. »Ich habe mir gewünscht, daß die Straße besser wird - und sie wurde es.« Er deutete auf Angelika. »Dein Gesicht. Du hattest Angst, daß eine Narbe zurückbleibt, nicht wahr?«

Angelika sah ihn verblüfft an. Sie wirkte kaum weniger schockiert als Lohmann, und obwohl Warstein spürte, daß sie es insgeheim bereits ebenso deutlich wußte wie er, schien auch sie sich noch gegen die Wahrheit zu sträuben. Widerwillig nickte sie.

»Die Brandblase ist verschwunden«, fuhr er fort. »Wenn wir einen Spiegel hätten, könntest du es selbst sehen. Da ist nichts mehr.«

Sie hob die Hand an die Wange und betastete ihre Haut. Sie sagte nichts.

»Und die Männer«, schloß Warstein mit einer Geste dorthin, wo vor einer Minute noch ein Dutzend Soldaten gewesen war. »Sie sind fort. Sie sind weg, weil Sie es gewollt haben, Lohmann.«

»Was für ein Quatsch«, sagte Lohmann. Es klang nicht einmal im Ansatz überzeugt. Nur hilflos.

»Aber Sie haben es selbst gesagt«, sagte Warstein. »Erinnern Sie sich? Irgend etwas wird Ihnen einfallen. Ihnen ist etwas eingefallen.«

»Aber das ist völlig unmöglich!« behauptete der Journalist. In seinen Augen war etwas, das an Irrsinn grenzte. Er sah aus wie ein Mann, der den Boden unter den Füßen verliert und es merkt, ohne etwas dagegen tun zu können. »Das würde bedeuten, daß...«

»...unsere Wünsche die Realität beeinflussen, ja«, führte Warstein den Satz zu Ende.

»Aber das ist unmöglich«, beharrte Lohmann. Er lachte nervös. Was er zustande brachte, hörte sich jedoch eher wie ein Wimmern an. »Wollen Sie behaupten, daß wir plötzlich zaubern können?« Er stand auf, griff in die Jackentasche und zog eine zerknautschte Zigarettenpackung hervor. Als er sie mit zitternden Fingern aufklappte, sah Warstein, daß sie nur noch zwei Zigaretten enthielt. »Sehen Sie!« sagte Lohmann in fast triumphierendem Ton. »Ich habe mir gerade gewünscht, daß sie wieder voll ist. Nichts ist geschehen.«