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Das Firmament brannte. Das Schwarz des Nachthimmels war vollkommen verschwunden und hatte einem unvorstellbaren Muster aus Licht und Farben Platz gemacht. Die Berge, die sich vor ihnen erhoben, schienen wie unter einer geheimnisvollen inneren Kraft aufzuleuchten und wirkten transparent und leicht. Etwas hatte von der Welt Besitz ergriffen, das zu groß war, um es zu verstehen, und das sie verändern - vielleicht zerstören - würde. Nein, es würde nicht geschehen. Es geschah bereits.

Aber das Bild war nicht nur großartig und berauschend, es war auch erschreckend. Die drei Menschen fühlten die unvorstellbaren Gewalten, die rings um sie herum tobten und die doch nur ein Bruchteil dessen waren, was kommen würde. Das Tor hatte sich geöffnet und war bereit, die Welt zu verschlingen.

»Sehen Sie«, sagte Angelika. Ihr ausgestreckter Arm deutete nach Süden. Wo der See gewesen war, erstreckte sich jetzt ein gewaltiger, bodenloser Schlund, in dessen Tiefe es wetterleuchtete und blitzte, als antworteten die Kräfte der Hölle auf die des Himmels über ihnen. An seinem nördlichen Ende konnten sie einen roten, flackernden Punkt erkennen. Ascona. Die Stadt brannte jetzt vollständig. Aber das war es nicht, was Angelika Rogler hatte zeigen wollen. Ein Stück weiter links waren neue, noch winzige rote Punkte erschienen. Funken in der Unendlichkeit nur, die doch bereits jetzt zu einem flackernden Muster zusammenzuwachsen begannen.

»Locarno?« flüsterte Rogler. »Sie ... Sie meinen, es ... es beginnt auch dort?«

»Es wird überall beginnen«, sagte Warstein. »Nichts kann es mehr aufhalten.«

»Dann ist das das Ende der Welt?« Rogler versuchte zu lachen, aber es mißlang.

»Wenigstens der, wie wir sie kennen, ja«, bestätigte Angelika. »Wenn wir es nicht aufhalten.«

»Gerade haben Sie gesagt, daß...« Rogler brach ab, starrte unsicher noch einige Sekunden auf die brennende Stadt unter ihnen herab und hob schließlich in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände. »Aber warum?« fragte er. »Was ... was haben wir getan? Womit haben wir das verdient? All diese Toten. All diese Gewalt. So schlecht sind die Menschen nicht, daß sie ein solches Ende verdient hätten.«

»Vielleicht ist die Zeit der Menschen abgelaufen«, murmelte Warstein. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht war nur diese Zeit abgelaufen, und sie standen an der Schwelle zu einer anderen. Er sprach den Gedanken nicht laut aus. »Vielleicht hat irgend jemand beschlossen, daß es genug ist«, sagte er. »So oder so.«

Warstein schwieg lange Sekunden. Diese Welt? Eine Welt des Hasses und des Tötens? Eine Welt der Gewalt, der Eifersucht, der Zerstörung? Er schüttelte den Kopf. »Nein.«

Angelika deutete auf die Hütte. Als Warstein sich herumdrehte, sah er, daß sich die Tür geöffnet hatte. Ein mildes, weißes Licht fiel aus ihrem Inneren heraus. Auch Rogler hatte sich herumgedreht und starrte die Tür an. »Ich wußte, daß es so enden würde«, murmelte er.

»Dann helfen Sie uns?« fragte Warstein.

»Ich ... ich weiß nicht«, antwortete Rogler. »Ich habe nie Ambitionen dazu gehabt, Gott zu spielen, wissen Sie.«

Manchmal werden wir nicht danach gefragt, was wir wollen, dachte Warstein. Er konnte Rogler verstehen. Auch er hatte Angst vor dem, was sie tun mußten, panische Angst. Er wußte immer noch nicht, was sie dort drinnen erwartete und warum ausgerechnet sie es waren, die über das Schicksal dieser ganzen Welt entscheiden sollten.

Er sprach nichts von alledem aus, sondern drehte sich wortlos um und betrat die Hütte. Und nach einigen Sekunden folgten ihm Angelika und schließlich auch Rogler.

Über Porera erlosch der Sturm. Die aufgepeitschten Luftmassen heulten noch ein letztes Mal mit ganzer Macht auf, ein Schrei, der das Gebirge in seinen Grundfesten zu erschüttern schien, aber die Gewalt des Orkans war gebrochen, das Tor, durch das die Lebenskraft dieser Welt entwichen war, nicht mehr da. Die Lichter am Himmel loderten heller.

Draußen mochte die Welt untergehen, aber hier drinnen, im Inneren der kleinen, fast spartanisch eingerichteten Hütte hatte sich nichts verändert. Das Heulen des Orkans war erloschen, als sie die Tür geschlossen hatten, und statt der flackernden Lichter des Jüngsten Gerichts umfing sie ein milder, weißer Schein, der sehr hell war, trotzdem aber nicht blendete.

Warstein betrachtete das Muster an der Wand. Franke hatte recht gehabt - es waren die gleichen Linien und Wellen, die gleichen Kreise und Blitze, die auch den Himmel erfüllten. Aber es war nicht das Muster, das sie unten im Berg gesehen hatten. Er erkannte seinen Irrtum erst jetzt. Vielleicht hatte noch nicht einmal Saruter es gewußt, aber Warstein sah jetzt ganz deutlich, daß diese Muster hier anders waren, unglaublich alt und kompliziert, aber nicht einmal annähernd so alt wie die, die sie unten im Berg gefunden hatten.

Er wußte, was zu tun war. Er hatte es die ganze Zeit über gewußt, so wie auch Angelika und Rogler. Das Wissen war in ihnen gewesen vom Zeitpunkt ihrer Geburt an, so, wie es in ihren Vorfahren gewesen war und in deren Vorfahren und wiederum in deren Vorfahren; eine endlose Kette, die niemals wirklich unterbrochen worden war. Sie waren nur Werkzeuge, Träger einer Macht und eines Wissens, das älter als die Menschheit war und wichtiger.

Langsam trat er an die Felswand heran, hob die Hand und berührte die Linien, die Saruter und die, die vor ihm hier gewesen waren, in den Felsen geritzt hatten. Angelika trat neben ihn. Ihre Lippen begannen eine Melodie zu summen, leise, schwingend, einem atonalen Rhythmus folgend, der nicht erkennbar war, aber auf Warsteins Tun ebenso einwirkte, wie die Linien, die seine Finger auf den Fels malten, Angelikas Lied bestimmten. Und Rogler, der dritte der letzten Wächter, stand zwischen ihnen, denn er war die Verbindung zwischen dem Lied und der Hand; der Kraft, die schuf, und der Kraft, die bewahrte. Und während sie so dastanden, während Angelika ihr Lied sang und Warstein den Mustern der Zeit ein neues hinzufügte, öffnete sich das Tor vollends, und die Welt begann hindurchzugleiten.

Dies alles geschah in einer einzigen Sekunde. Der Himmel über dem, was einst der Lago Maggiore gewesen war, flammte in unerträglicher Glut auf. Grelle, weiße, rote, grüne und blaue Blitze zuckten aus dem lodernden Firmament herab, trafen die titanischen Felssäulen, zwischen denen die Druiden Aufstellung genommen hatten und brachten sie zum Läuten. Es waren die Energien der Schöpfung selbst, die Urkräfte des Universums, die für den Bruchteil einer Sekunde zwischen den steinernen Riesensäulen tobten. Die Körper der Druiden, die geduldig zwischen ihnen gestanden und gewartet hatten, zerfielen im Bruchteil eines Augenblickes zu Asche. Aber es war nicht der Körper, der zählte. Ihre Macht war da, ihr Wissen, dessen Träger sie gewesen waren. Als das grell lodernde Licht erlosch, waren die Inseln, die den nördlichen Teil des Lago Maggiore beherrscht hatten, verschwunden ebenso wie die Druiden. Ihre Aufgabe war erfüllt. Für dieses Mal. Ein neuer Zyklus hatte begonnen.

Die Sonne ging auf, als sie am Morgen erwachten. Es würde ein schöner Tag werden, das konnte man sehen. Der Himmel war blau, von nur wenigen, zarten weißen Wolken bedeckt, und die Luft schien viel klarer als sonst, so daß der Blick sehr viel weiter reichte, als er es gewohnt war. Ein schöner Morgen - aber auch ein ganz normaler Morgen. Was hatte er erwartet? Zwei Sonnen am Himmel? Oder Berge aus Zuckerguß? Warstein lächelte über seine eigenen albernen Gedanken, aber zugleich drückte dieses Lächeln auch die Erleichterung aus, die er trotz allem empfand. Angelika, Rogler und er hatten die ganze Nacht gebraucht, um das neue Muster zu weben, und obwohl es in dieser Zeit nicht eine einzige Sekunde gegeben hatte, in der sie nicht gewußt hatten, was sie taten und daß sie es richtig taten, war der Zweifel geblieben. Der Wächter hatte gewußt, was geschehen würde, aber der Mensch in ihm hatte gezweifelt - und ein bißchen tat er es noch. Ein bißchen war er auch überrascht, daß es überhaupt einen neuen Morgen gegeben hatte.