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«So geht das Leben aber nicht weiter«, murmelte er.»Die Französische Revolution fegte die Klassen der Gesellschaft hinweg. Napoleon war ein Rückfall, der den deutschen Geist endlich erweckte — beide starben sie an ihrer inneren Erweichung. Aber was blieb von allem in Deutschland zurück? Lebt der Geist Rousseaus noch? Wo ist die Freiheit des Individuums? — Ich könnte mich übergeben, sehe ich mir den deutschen Bürger an!«

«Wir ändern es nicht«, antwortete Kummer und erhob sich.»Das

Morsche braucht seine Zeit, ehe es zusammenstürzt. Vielleicht Jahrzehnte noch, vielleicht auch Jahrhunderte — das Bürgertum, die sogenannte privilegierte Klasse stirbt aus, und was sich erheben wird, ist das Recht des Menschen auf Individualität und Gleichheit vor dem Rhythmus des Lebens. Was wir können, ist, unser Leben heute schon zu leben zum Trotz der stehenden hohlköpfigen Ordnung der premiere classe!«

Plötzlich drehte sich Kummer um, fegte mit der Hand durch die Luft und lachte dem sinnenden Bendler ins Gesicht.

«Wir sind zwei dumme, lächerliche Träumer, Bendler! Statt den Abend zu genießen, machen wir uns unnütze Gedanken über die Verbesserung einer an sich wertlosen Welt. Komm, Freund — laß uns an der Hecke lieber dem Spiel der entzückenden Marie lauschen. «Er hob leicht die Hand, zeigte zum Nebenhaus und legte den Kopf lauschend zur Seite.»Hörst du — ein Rondo von Haydn. Kunst, lieber Freund, ist doch der einzige Trost in dieser jammervollen Welt.«

«Und gerade die Künstler sterben massenweise an Hunger.«, vollendete Bendler finster den Satz.

Dann traten sie aus der Laube, gingen zur abgrenzenden Hecke und hörten still dem Spiel des Spinetts zu, bis die Kühle der Nacht sie zwang, ins Haus zurückzugehen.

Traumlos schlief Otto Heinrich Kummer diese zweite Nacht in seiner neuen Heimat.

Ein leichter Regen, der in dieser Nacht fiel, trommelte leise an das Fenster der Luke, rauschte in der Rinne und schuf in dem kleinen Raum unter dem Dach die behagliche Wärme des Geborgenseins.

Die Wochen gingen mit angestrengter Arbeit in Apotheke und Laboratorium dahin.

Herr Knackfuß zeigte sich Kummer gegenüber von einer zwar strengen, aber keineswegs unangenehmen oder ungerechten Seite, wie er sie manchmal bei den anderen Gesellen, vor allem bei Bendler, aufsteckte, sondern behandelte den Jüngling mit einer sonst fremden

Höflichkeit. Und doch schien es Kummer, als sei diese ganze Behandlung nur ein Abtasten, ein Abwarten, eine Stille vor einem gewaltigen Sturm, ein Spionieren nach der schwachen Stelle, wo Knackfuß ihn tödlich treffen konnte.

Da er dieses Gefühl nie los wurde, lag er beim Eintritt des Chefs und bei den gemeinsamen Mahlzeiten ständig wie ein Raubtier auf der Lauer und vermied alles, was ihm eine Blöße geben konnte. Das Gefühl, in einer neuen Heimat zu sein, wich deshalb auch sehr bald dem zähen Gedanken eines unterirdischen Kampfes, eines Postenstehens, das ermüdet und hart im Herzen macht.

Mit Jungfer Trudel hatte er in den vergangenen Wochen nicht wieder gesprochen, sie höchstens lässig gegrüßt, wenn er ihr auf der Treppe oder im Laden begegnete. Auf die an einem Abend plötzlich hervorgeschossene Frage Knackfußens, was ihm an seiner Tochter mißfiele (denn der Stolz des Vaterherzens hatte durch die lang ersehnte hochmütige Behandlung seiner Tochter unmerklich einen starken Stoß erhalten), entgegnete ihm Otto Heinrich klug, daß sein Herz an ein Mädchen in Dresden bereits gebunden und es nicht Sitte sei, dann noch andere Jungfern mit schönen Blicken zu bedenken.

Wenn Knackfuß diese Antwort auch nur halb gelten ließ und instinktiv fühlte, daß es ein Ausweichen war, hob sie doch den jungen Provisor sehr in seiner Achtung, und er schrieb an den Herrn Münzmarschall nach Dresden einen Brief, daß er mit dem Herrn Sohn sehr zufrieden sei und sein Können nicht überschätzt wurde.

Willi Bendler war in den Wochen ziemlich still geworden, wenn er außerhalb der Ladentheke und des Gesichts der anderen Kollegen war. Mit Kummer hatte er in letzter Zeit manche besinnliche Stunde, die immer um den Gedanken kreiste, auszubrechen und als Gegner der gesellschaftlichen Ordnung ein Märtyrer der Idee zu werden!

Wenn dann am Abend die wilden Herbstwinde um das Dach stöhnten und die Schindeln klapperten, saß er oft auf dem Rand seines Bettes, angetan mit seinem überdimensionalen Nachthemd, und philosophierte von der Freiheit der Menschen und kam zu keinem Entschluß, weil — wie er sagte — sein Vater nur ein kleiner Dorfschullehrer und kein Minister war.

Sonst ging das Leben ziemlich still seinen altgewohnten, gut eingespielten Verlauf. Die Tage wurden kürzer, die Nächte länger und die Herzen schwerer, wenn die dunklen Wolken von den Bergen herniederstiegen.

An einem Sonntag war es, als Otto Heinrich Kummer sich einen Tagesurlaub erbat und eine kleine Reise nach Augustusburg unternahm, einem alten, herrlichen, weiten Schloß auf den Höhen des Erzgebirges, dem Sitz des Freiherrn Ritter von Günther, einem Kämmerer des Königs und Freund des Staatsministers.

In dem kleinen Ort Augustusburg, das am Fuße des Burgberges lag, wohnte eine Tante Otto Heinrichs, und um diese zu besuchen, klapperte er mit einem Bauernfuhrwerk durch die Schluchten und Hohlwege und scheute nicht die beschwerliche Fahrt durch das Gebirge.

Nachdem er seinen schicklichen Besuch gemacht und alle Grüße ausgerichtet hatte, spazierte er den Burgberg hinauf, umging das mächtige Schloß und bewunderte die schönen Bildhauereien der Toreinfahrt, sprach mit der kostbar uniformierten Wache einige freundliche Worte und ließ sich von dem Leben des üppig hausenden Freiherrn von Günther berichten, dann ging er in den nahen Park, setzte sich auf eine Steinbank nahe des Steilhanges und blickte hinab auf den kleinen Ort und das Flüßchen Zschopau, das den Flecken durchfloß.

Ganz sich der Ruhe hingebend, lehnte er an den kühlen Stein der Bank, als er bei einem Seitenblick über den weiten Platz hinter der Burg in einer Steingrotte einen Mann sitzen sah, der in einem auf seinen Knien liegenden Buch las. Ein Zierdegen mit vergoldetem Korb hing an seiner Seite, und das gepflegte Haupthaar sowie die von einem ersten Schneider gefertigte Kleidung ließ einen wohlhabenden Mann erkennen. Die langen, etwas knochigen Hände blätterten die Seiten des Buches wie in Gedanken um, während die Augen unter den buschigen Brauen in dem asketischen Gesicht beim Lesen fast geschlossen waren.

Die merkwürdige Erscheinung des Fremden zog den Jüngling ungemein an.

Er konnte nicht sagen, was ihn an diesem Manne interessierte, denn sein Äußeres war weder schön noch häßlich, sondern von jener Allgemeinheit, die nirgends auffällt. Und doch strömte die Ruhe und das ganze Bild dieses lesenden Mannes in der Grotte eine solche Macht auf Otto Heinrich Kummer aus, daß er sich unwillkürlich erhob und dem Manne näher trat.

Um ihn nicht zu brüskieren, ging er erst ein paarmal um die Grotte herum, betrachtete dann ein Steingebilde am Eingang und trat schließlich näher, als wolle er das Innere besichtigen.

Als sein Schatten auf das Buch fiel, blickte der Leser auf, und ein forschender, heller Blick traf den vermessenen Jüngling.

«Pardon«, murmelte Kummer und zog seinen Hut.»Ich wollte Sie nicht stören.«

«Was mich allein stört, ist, daß Sie sich als Deutscher auf französisch entschuldigen«, antwortete ihm der Fremde mit einer dunkel klingenden, weichen Stimme.

Er klappte das Buch zusammen, legte es zur Seite und musterte von unten herauf den verlegenen Apotheker.

Ein Lächeln flog einen Augenblick über seine harten Züge.

«Belustigen Sie sich auch an dem Völkertreiben des Herrn von Günther?«fragte er nach einer kleinen Weile des Schweigens.»Die Bauern im Tale hungern — aber dem Herrn Ritter von Günther müssen sie die Hühner bringen!«

«Es ist vielleicht sein Recht«, wagte Kummer zaghaft einzuwenden, obgleich er keinerlei Lust empfand, den unbekannten Edelmann zu verteidigen. Nur etwas sagen wollte er, um die Pause der Verlegenheit zu überwinden.