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Ihre Blicke galten nur ihm. Und dann das jähe Schweigen, das sie alle ergriff.Und die Arme, die hochflogen, die Hände, die zu Fäusten sich ballten.

Und der Chor, der wie ein Echo sein Herz ausfüllte:

«. sei Kanone, sei Kartaune, blase, schmettere, donnere, töte!«

Kurz nach elf war es, als Kummer sich zusammen mit Hans Fehlin wieder auf den Weg nach Hause machte: Ein schwieriger Weg. Zwar hielt die Begeisterung, die die Versammlung des Bundes getragen hatte, noch an, ja, noch zitterte der Zorn in ihm, der sie gegen die Reaktion, gegen Presse-Zensur und Fürsten-Willkür vereinigte, aber der Treibstoff der Gefühle, das viele Bier machte sich unliebsam bemerksam. In Kummers Knien. Im unsicheren Gang. Die Humpen, die sie tranken, waren das Siegel der Brüderschaft gewesen. Nun aber.

«Weiter links. - Hier rennst du doch gegen eine Mauer. «Fehlin stützte den Freund. Doch Otto Heinrich stolperte, und hätte Fehlin ihn nicht gehalten, wäre er gestürzt.

«Bin das nicht gewohnt, Hans.«

«Ja, richtig. Und deshalb mußtest du beweisen, daß du der größte Zecher bist.«

«Ich bin nichts als ein Idiot, Hans.«

«Du bist ein lieber Kerl. Und ein romantischer Schwärmgeist. -Aber beim Bier würde ich zu mehr Vorsicht raten.«

«Beim Bier?«

Der Mond hatte sich hinter dunkle Wolken verzogen. Das Wasser unten am Ufer rauschte leise und unbeteiligt an ihnen vorüber. Der Weg war nichts als ein graues Band, die Pappeln und Erlen dro-hende Schatten.

«Wenn ich dich nicht hätte. «Dankbar umfaßte Otto Heinrich die Hand des Freundes. Hans Fehlin zog ihn weiter.

Als sie endlich die Residenz-Brücke erreicht hatten, war es Otto Heinrich ein wenig besser. Ihre Absätze klangen auf dem harten Stein. Wo waren nur all die Visionen, die Träume von einer besseren, nein, einer neuen Welt? Vielleicht war es stets das gleiche. Vielleicht folgte auf jeden Überschwang die Ernüchterung, vielleicht folgte dem Traum von der großen Reform, nein, der Revolution stets der Absturz in die bittere Realität.

Hinter ihnen klirrten Hufe, rumpelten Räder.

Ein schwarzer, großer Wagen rollte vorüber. Die Männer, die das Gefährt begleiteten, trugen lange Stangen. Eine Wolke stechenden Gestanks hüllte nun alle ein, die einsamen Spaziergänger wie die Arbeiter, die die Latrinen der Stadt leerten.

Der Eimerwagen.

Hastig drehte sich Heinrich um. Seine Hände umklammerten die Steinbalustrade der Brücke. Sein Magen krampfte sich zusammen, revoltierte, nur die Furcht vor der Demütigung hinderte ihn, sich auf der Stelle zu übergeben. Er würgte. Unter ihm zog schwarz und glitzernd die Elbe.

Er atmete tief, zog das Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß von der Stirne. Der Wind, der über den Fluß wehte, reinigte die Nacht.

Deutsche Dichter? dachte er. - Wie albern, wie lächerlich, wie armselig. Wir alle sind von der Feigheit und Furcht der Pestilenz durchtränkt.

Sie erreichten die Stadt. Fehlins Eltern bewohnten ein palaisartiges, nobles Haus am Opernplatz. Baron Fehlin, Bankier und Grundbesitzer, liebte eine standesgemäße Herberge, wenn er nach Dresden kam. Und die Kommilitonen witzelten über die >teuerste Studentenbude Deutschlands<, wenn sie daran vorüberkamen.

«Schaffst du's allein?«

«Ja, ja. Danke, Fehlin. Hab' ich mich sehr blamiert?«

«Warum? Was wären wir schon ohne einen guten Trunk? Langweilige Gesellen vermutlich. Ich habe manchmal den Verdacht, ohne Wein und ohne Bier würde in dieser Welt sich nichts verändern, denn nicht wahr: So alleine in der Stille unserer Arbeitszimmer macht sie sich ganz anders, schrumpft gewissermaßen wieder auf uns selbst zurück.«

Er schlug Kummer auf die Schulter und drehte sich um. Otto Heinrich sah ihm nach und beneidete ihn: Fehlin; er ruhte in seinem Fleisch, war stets auf die gleiche Art ironisch und distanziert, selbstsicher und gelassen. Und du? Dich bestürmen Worte, du versuchst sie zu bändigen, verbringst deine Tage in der Universität und bildest dir ein, bei all dem Gerede über Zusammensetzung und Veränderung der Stoffe ein Nachfolger der großen Alchimisten zu sein. Zu Hause spielst du den gehorsamen Sohn und liest heimlich die revolutionären Verse der Emigranten, inszenierst dein ureigenes, persönliches kleines Welt-Theater. Und dann, beim ersten ordentlichen Trink-Comment kommt schon der Zusammenbruch.

Ins Bett! Den Kopf unter kaltes Wasser. Und morgen, morgen wirst du nachdenken. Morgen.

Breit hingelagert, einer Festung gleich, lag mit flachansteigendem Giebel das Haus des Münzmarschalls Kummer.

Kapitel 2

Otto Heinrich war stehengeblieben. Er spürte das Klopfen des Herzens hoch oben am Hals. Dort, rechts? Im ersten Stock schimmerten drei erleuchtete Fenster. Das Arbeitszimmer seines Vaters.

Gerade noch Revolutionär — und nun schon Feigling. Aber diese Furcht ließ sich nicht unterdrücken. Wenn er dich in diesem Zustand erwischt. wäre zuviel, als daß es der Magen noch ertragen könnte.

So ließ er den Schlüssel in der Tasche der Samtjacke und näherte sich dem Dienstboteneingang von einer Seitengasse.

Hier stand die Türe offen.

Die Glutreste in der Küche zeigten ihm den Weg zur Hintertreppe. Vorsichtig, auf Zehenspitzen, fluchend, wenn ihm der Gleichgewichtssinn erneut einen Streich spielte, erreichte Kummer schließ-lich den zweiten Stock. Als er den Korridor durchging, am großen Treppenhaus vorbei, um zu seiner Tür zu gelangen, vernahm er hinter sich ein Geräusch.

Er blieb stehen. Licht drang durch die geöffnete Tür. Eine helle Mädchenstimme rief leise:»Otto Heinrich.«

Mein Gott, das war Anna Luise, seine Schwester. Den Leuchter trug sie in der Hand. Die dunklen Augen in dem schmalen Mädchengesicht unter der Nachthaube wirkten riesengroß und beschwörend, das weiße Leinen des Nachthemds reichte bis zum Boden, bedeckte ihre Füße, so daß sie wie eine kleine, weiße Säule wirkte, die sich näherte.

«Wo warst du bloß? Gut, daß ich dich gehört habe.«

«Wieso denn?«

Sie zog die Brauen zusammen.»Was ist denn mit dir?«

«Was soll sein?«

«Du schwankst so komisch.«

«Aber nein. Sag mir lieber, ist irgend etwas geschehen?«

«O ja, es ist etwas geschehen. Der Vater ist außer sich. Den ganzen Abend wartet er schon.«

«Auf was denn?«

«Auf was? — Auf wen, mußt du fragen. Auf dich. Da waren zwei Herren da. Und einen kannte ich. Er ist ein hoher Kommissär bei der Polizei. Sie wollten Vater sprechen. Und dann mußte Mama ins Zimmer, und als sie herauskam, sagte sie, es gehe um dich.«

«Um mich?«

«Ja. Vater ist noch nicht einmal zum Abendessen erschienen. Und Mama war ganz aufgeregt. Du kennst sie doch, in solchen Momenten bekommst du kein vernünftiges Wort von ihr. Sie rannte nur hin und her und hatte das Taschentuch vor dem Mund und sagte >mon dieu, mon dieu<, und das in einem fort. Was ist bloß? Otto Heinrich, was hast du angestellt?«

Anna Luises dunkle Kinderaugen.

Und kein vernünftiges Wort, kein vernünftiger Gedanke in seinem Schädel. Doch die Alkoholnebel existierten nicht mehr. Verflogen waren sie, als sei ein Vorhang zerrissen.

«Es ist was Schlimmes, nicht wahr?«

«Aber nein.«

Von unten schallte durchs Treppenhaus die Stimme des Münzmarschalls:»Ist da jemand? Otto Heinrich, bist du das?«

Er beugte sich über das Geländer:»Da. Bin gerade zurückgekommen.«

«Ach nein? Wirklich? — Hättest du dann vielleicht die Güte, dich zu mir zu bemühen?«

Es klang wie purer Hohn, nein, wie nackter Zorn.

Gotthelf Kummer erwartete den Sohn nicht an der Türe; schmal und steil aufgerichtet, im engen, braunen Schlafrock, das Kinn emporgereckt, die Augen im bleichen Gesicht dunkel und brennend, stand er hinter seinem Schreibtisch.

Sacht, ganz vorsichtig schloß Otto Heinrich die Türe, blieb nichts als ein Schatten, der den Lichtkreis der Öllampe um den Schreibtisch scheute.