«Wenn es möglich ist.»
John läutete und gab Anweisung, den Wagen vorfahren zu lassen. Zehn Minuten später rasten wir durch den Park und über die Landstraße nach Tadminster.
«Also, Poirot», sagte ich wenig begeistert. «Vielleicht erklären Sie mir mal, was das alles soll?»
«Aber mon ami, Sie können eine Menge selbst erraten. Ihnen ist natürlich klar, dass sich jetzt durch Mr. Inglethorps Alibi alles völlig verändert hat. Wir stehen vor einem gänzlich neuen Problem. Wir wissen jetzt, dass er derjenige ist, der das Gift nicht gekauft hat. Wir haben die falschen Beweise enttarnt. Jetzt müssen wir uns mit den echten befassen. Ich habe festgestellt, dass alle Hausbewohner sich am Montag als Mr. Inglethorp verkleidet haben könnten, ausgenommen Mrs. Cavendish, die mit Ihnen Tennis spielte.
Außerdem haben wir seine Aussage, dass er den Kaffee in der Halle abstellte. Bei der Untersuchung hat davon niemand groß Notiz genommen — aber nun hat dieser Fakt eine entscheidende Bedeutung erhalten. Wir müssen herausfinden, wer Mrs. Inglethorp diesen Kaffee brachte oder wer durch die Halle ging, während die Tasse dort stand. Nach Ihrem Bericht gibt es nur zwei Menschen, von denen wir genau wissen, dass sie nicht in die Nähe des Kaffees kamen — Mrs. Cavendish und Mademoiselle Cynthia.»
«Ja, das stimmt.» Mir wurde auf einmal ganz leicht ums Herz.
Mrs. Cavendish stand damit wohl außerhalb jeden Verdachts.
«Da Alfred Inglethorp nun nicht mehr unter Verdacht steht», fuhr Poirot fort, «bin ich gezwungen, meine Trümpfe eher zu zeigen, als ich wollte. Solange der Täter in dem Glauben war, ich wäre hinter Inglethorp her, fühlte er sich unbeobachtet und war nicht auf der Hut. Jetzt wird er sich doppelt in Acht nehmen. Ja, er wird doppelt vorsichtig sein.» Poirot drehte sich ruckartig zu mir um. «Sagen Sie mir, Hastings, haben Sie — Sie persönlich — eigentlich niemanden in Verdacht?»
Ich zögerte. Offen gestanden war mir an diesem Morgen schon ein-, zweimal eine ganz ungeheuerliche, verrückte Idee durch den Kopf gegangen. Ich hatte sie als zu absurd abgetan, aber sie ließ sich einfach nicht vertreiben.
«Man kann es wohl kaum einen Verdacht nennen», murmelte ich. «Dazu ist es zu albern.»
«Na, kommen Sie schon», drängte Poirot ermutigend. «Keine Angst, nur heraus damit. Man sollte immer seinen Instinkten folgen.»
«Also gut», platzte ich heraus, «es ist völlig unmöglich — aber ich habe den Verdacht, dass Miss Howard nicht alles sagt, was sie weiß.»
«Miss Howard?»
«Ja. Jetzt werden Sie mich auslachen.»
«Überhaupt nicht. Warum sollte ich?»
«Mir kommt es einfach so vor», fuhr ich unsicher fort, «dass wir sie als mögliche Verdächtige nur deshalb ausgelassen haben, weil sie nicht da war. Aber sie war schließlich nur fünfzehn Meilen weit entfernt. Mit dem Auto dauert das nicht mal eine Stunde. Können wir denn mit Bestimmtheit behaupten, dass sie in der Mordnacht unmöglich in Styles sein konnte?»
«Ja, mein Freund», sagte Poirot überraschend. «Ich habe gleich das Krankenhaus angerufen, in dem sie arbeitet.»
«Und?»
«Ich erfuhr, dass Miss Howard am Dienstagnachmittag Dienst hatte, und als ein neuer Verwundeten-Transport eintraf, bot sie freiwillig an, auch die Nachtschicht zu übernehmen, was dankbar angenommen wurde. Damit wäre das erledigt.»
«Ach!», sagte ich ziemlich verdutzt und fuhr fort: «Eigentlich haben mich ihre vehementen Tiraden gegen In-glethorp misstrauisch gemacht. Ich habe den Eindruck, als ob sie alles tun würde, um ihm zu schaden. Und außerdem habe ich mir überlegt, dass sie etwas über das verschwundene Testament wissen könnte. Vielleicht hat sie das neue mit dem alten verwechselt und es verbrannt. Sie scheint ihn fürchterlich zu hassen.»
«Finden Sie ihre Heftigkeit unangemessen?»
«J-ja. Sie ist so schrecklich wütend, dass ich mich frage, ob sie da noch ganz zurechnungsfähig ist.»
Poirot schüttelte energisch den Kopf.
«Nein, da befinden Sie sich auf der falschen Fährte. An Miss Howard ist nichts Schwachsinniges oder Degeneriertes. Sie ist ein Prachtexemplar von einer höchst zurechnungsfähigen Engländerin. Sie ist die Vernunft selbst.»
«Aber ihr Hass auf Inglethorp grenzt doch schon fast an Manie. Ich hatte mir überlegt — zweifellos ein höchst lächerlicher Gedanke —, dass sie möglicherweise ihn vergiften wollte und dass es dann aus Versehen Mrs. Inglethorp getroffen hat. Aber mir fällt keine Möglichkeit ein, wie sie es getan haben kann. Das Ganze ist wahrscheinlich eine Schnapsidee von mir.»
«Aber in einer Sache haben Sie ganz Recht: Es ist immer klug, alle zu verdächtigen, bis man auf logische Weise und überzeugend beweisen kann, dass jemand unschuldig ist. Was spräche denn nun gegen die Vermutung, dass Miss Howard absichtlich Mrs. Inglethorp vergiftet hätte?»
«Aber sie war ihr doch so zugetan!», rief ich aus.
«Ts, ts!», machte Poirot gereizt. «Sie argumentieren wie ein Kind. Falls Miss Howard im Stande war, die alte Dame zu vergiften, hätte sie auch sicherlich ihre Zuneigung heucheln können. Nein, wir müssen anders argumentie-ren. Sie haben völlig Recht, ihr Hass gegen Alfred Ingle-thorp ist viel zu übertrieben, um echt zu sein. Aber Ihre Schlussfolgerung daraus ist falsch. Ich habe meine eigenen Schlüsse gezogen und halte die auch für richtig, aber ich möchte momentan noch nicht darüber sprechen.» Er hielt kurz inne, dann fuhr er fort: «Meiner Ansicht nach spricht eine unumstößliche Tatsache gegen Miss Howard als Mörderin.»
«Und die wäre?»
«Miss Howard hat keinerlei Vorteil durch Mrs. Inglethorps Tod. Und es gibt nun mal keinen Mord ohne Motiv.»
Ich überlegte. «Könnte Mrs. Inglethorp nicht ein Testament zu ihren Gunsten gemacht haben?»
Poirot schüttelte den Kopf.
«Aber Sie haben doch Mr. Wells auf diese Möglichkeit hingewiesen.»
Poirot lächelte. «Das hatte seinen Grund. Ich wollte nicht den Namen der Person nennen, an die ich dabei eigentlich dachte. Miss Howard nimmt eine ziemlich ähnliche Stellung ein, deshalb nannte ich ihren Namen.»
«Aber Mrs. Inglethorp hätte es doch trotzdem tun können. Vielleicht war sogar das Testament, das sie an ihrem Todestag machte, genau das, was.»
Aber Poirot schüttelte so energisch den Kopf, dass ich innehielt.
«Nein, mein Freund. Ich habe ein paar ganz bestimmte kleine Ideen bezüglich dieses Testaments. Aber ich kann Ihnen so viel verraten — es war nicht zu Miss Howards Gunsten.»
Ich akzeptierte seine Theorie, aber ich begriff nicht, wie er sich seiner Sache so sicher sein konnte.
Ich seufzte. «Dann werden wir Miss Howard also freisprechen. Eigentlich ist es zum Teil Ihre Schuld, dass ich sie überhaupt verdächtigt habe, weil Sie während der Untersuchung etwas zu Miss Howards Aussage bemerkten, was mich darauf brachte.»
Poirot sah mich fragend an.
«Was habe ich denn über ihre Aussage bei der Untersuchung gesagt?»
«Wissen Sie das nicht mehr? Als ich behauptete, sie und John stünden außerhalb jeden Verdachts?»
«Ach — äh — ja.» Er schien ein bisschen verwirrt, aber er riss sich zusammen. «Übrigens, Hastings, es gibt etwas, was Sie für mich tun könnten.»
«Gern. Was wäre das?»
«Wenn Sie das nächste Mal mit Lawrence Cavendish zusammen sind, sagen Sie bitte Folgendes zu ihm: <Ich habe eine Nachricht von Poirot für Sie. Finden Sie die überzählige Tasse und Sie können beruhigt sein!> Nicht mehr und nicht weniger.»
«Finden Sie die überzählige Tasse und Sie können beruhigt sein?», vergewisserte ich mich verblüfft.
«Ausgezeichnet.»
«Aber was soll das bedeuten?»
«Das dürfen Sie getrost selbst herausfinden. Sie kennen ja alle Tatsachen. Sagen Sie das einfach zu ihm und merken Sie sich, was er antwortet.»
«Na gut — aber das ist alles äußerst geheimnisvoll.»