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»Gewiß«, sagte Ged. »Wir müssen in die tiefsten Quellen schauen, glaube ich. Zu lange erfreuten wir uns des Sonnenlichtes, wir wärmten uns in dem Frieden, den der geheilte Ring gebracht hat. Unbedeutende Dinge nur haben wir vollbracht, wir fischten im seichten Wasser. Heute abend müssen wir die Tiefe befragen.« Und er ließ den Formgeber zurück, versunken in der Betrachtung einer Spinne im sonnigen Gras.

Am Rande des Haines, wo die Zweige der Bäume überhängen und gewöhnlichen Grund beschatten, ließ sich Ged nieder und lehnte seinen Rücken an eine mächtige Wurzel. Sein Stab lag quer auf seinen Knien. Er schloß die Augen, als ob er schliefe, doch sein Geist wanderte über die Felder und Hügel von Rok nach Norden, bis an das meerumwogte, gischtbesprühte Vorgebirge, wo der Einsame Turm stand.

»Kurremkarmerruk«, sagte er im Geist, und der Meister Namengeber blickte von dem dicken Buch auf, aus dem er seinen Schülern die wahren Namen von Wurzeln, Krautern, Blüten, Samen und Blättern vorgelesen hatte und erwiderte: »Ich bin hier, mein Gebieter.«

Dann hörte der große, hagere, alte Mann, dessen weißes Haar unter der schwarzen Kapuze verborgen war, zu, und die Schüler im Turmzimmer blickten von ihren Schreibtafeln auf und warfen sich erstaunte Blicke zu.

»Ich werde kommen«, sagte Kurremkarmerruk und, sich wieder über das Buch beugend, sprach er: »Das Blütenblatt des Moly hat einen Namen, und zwar heißt es lebera, und ebenso das Kelchblatt, und zwar heißt es Partonath, und der Stengel, und das Blatt und die Wurzel haben ihre eigenen Namen…«

Doch Erzmagier Ged, der all die Namen des Moly kannte, rief seinen Geistboten wieder zurück; er hielt seine Augen geschlossen, streckte seine Beine bequem aus und schlief in dem von bebenden Blätterschatten durchbrochenen Sonnenlicht bald ein.

DIE MEISTER AUF ROK

Auf Rok werden die Künste der Hohen Magie gelehrt, und Knaben, denen die Gabe der Zauberei angeboren ist, kommen aus allen Ländern der Erdsee hierher zur Schule. Sie werden mit den verschiedensten Arten der Zauberei vertraut gemacht, studieren Namen, Runen, Formeln und Bannsprüche, lernen, was man tun darf und was man unterlassen muß und die Gründe dafür. Und hier werden sie, nach langer Übung, wenn Geist, Verstand und Handfertigkeit Schritt halten, zum Zauberer ernannt und erhalten einen Stab als Zeichen ihrer Macht. Die wahren Zauberer kommen alle aus Rok.

Da es auf allen Inseln Zauberer und Zauberweiber gibt und die Magie den Menschen so nötig ist wie Brot und so ergötzlich wie Musik, wird die Schule der Zauberkunst mit Ehrfurcht betrachtet. Die neun Magier, die Meister der Schule, genießen das gleiche Ansehen wie die mächtigsten Prinzen des Inselreichs. Ihr Meister, der Hüter von Rok, der Erzmagier, ist keinem Menschen verpflichtet, außer dem König aller Inseln, doch selbst an diesen bindet ihn nur ein Treueeid, der aus freiwilligem Herzen gegeben wurde, denn selbst ein König ist nicht stark genug, diesen mächtigsten aller Magier an das Gemeine Recht zu ketten, wenn er sich dagegen sträuben würde. Doch selbst in den Jahrhunderten, die keinen König kannten, blieben die Erzmagier ihrem Eid treu und dienten dem Gemeinen Recht. In Rok nimmt alles, schon seit Jahrhunderten, unverändert seinen Lauf. Auf Rok, so schien es, war man sicher vor aller Unbill, hier hallte das Lachen der Jungen durch die breiten, kalten Flure des Großhauses und fand sein Echo in den Innenhöfen des Gebäudes.

Der Junge, der Arren die Schule zeigte, war ein kräftiger, untersetzter Bursche, dessen Umhang am Hals mit einer Silberbrosche geschlossen war, ein Zeichen, daß er nicht mehr Novize, sondern bereits Zauberer war und jetzt im Studium steckte, um den Stab zu erlangen. Er wurde ›Spiel‹ genannt, »denn«, so erklärte er, »meine Eltern hatten sechs Mädchen, und mein Vater sagte, das siebte Kind war ein gewagtes Spiel mit dem Schicksal.« Er war ein unterhaltsamer Geselle, schlagfertig und gescheit. Zu jeder anderen Zeit hätte Arren großen Gefallen an seinem Humor gefunden, doch heute war sein Herz zu voll. Er gab nicht viel acht auf das, was ihm Spiel erzählte. Und Spiel, der das natürliche Verlangen hatte, daß man Notiz von ihm nehme, fing an, die Geistesabwesenheit des Fremden auszunutzen. Zuerst begann er allerhand merkwürdige Dinge über die Schule zu erzählen, dann trumpfte er mit Lügen auf, und Arren sagte zu allem immer nur »Ach ja?« und »Wirklich?«, so daß Spiel begann, ihn als einen königlichen Idioten zu betrachten.

»Hier wird natürlich nicht gekocht«, sagte er, als sie an der Küche vorbeikamen, in der es laut zuging, wo riesige Kupferkessel glänzten und wo mit großen Messern geschnitten und zerkleinert wurde, und der Duft von Zwiebeln Tränen in die Augen trieb. »Das ist alles nur zum Anschauen. Wir essen im Refektorium und jeder zaubert sich herbei, was er essen will. Dann braucht man natürlich auch nachher kein Geschirr zu spülen.«

»Oh, wirklich?« meinte Arren höflich.

»Novizen, die noch keine Zauberformeln kennen, die werden natürlich sehr mager in den ersten Monaten hier, aber sie lernen schnell. Da ist zum Beispiel ein Junge aus Havnor, der dauernd versucht, gebratene Hähnchen herbeizuzaubern und immer nur Hirsebrei bekommt. Er bleibt mit seiner Formel immer am Hirsebrei hängen. Doch gestern hat er einen geräucherten Schellfisch dazubekommen.« Spiel wurde heiser vor Anstrengung, um die Leichtgläubigkeit des Gastes zu erschüttern. Er gab es schließlich auf und sagte überhaupt nichts mehr.

»Aus welchem … aus welchem Land kommt der Erzmagier?« fragte der Gast und warf nicht einen einzigen Blick auf die eindrucksvolle Galerie, durch die sie gerade schritten, deren Wände und Decke ein einziges Schnitzwerk war, das den Baum der Tausend Blätter darstellte.

»Gont«, sagte Spiel. »Er war dort Ziegenhirte.«

Als er diese einfache und wohlbekannte Tatsache vernahm, blieb der Junge aus Enlad stehen und starrte ihn ungläubig an: »Ein Ziegenhirte?«

»Auf Gont hüten die meisten Leute Ziegen, oder es sind Zauberer oder Piraten. Ich habe ja nicht gesagt, daß er jetzt Ziegenhirte ist.«

»Aber wie kann ein Ziegenhirte Erzmagier werden?«

»Auf die gleiche Art und Weise wie ein Prinz! Indem er nach Rok kommt und besser ist als alle Meister, und den Ring aus Atuan stiehlt, und zu den Dracheninseln segelt, und der größte Zauberer seit Erreth-Akbe ist — wie denn sonst?«

Sie verließen die Galerie durch die Nordtür. Die Nachmittagssonne lag warm auf den bestellten Hügeln, den Dächern von Thwil und auf der dahinterliegenden Bucht. Hier hielten sie an und redeten miteinander. Spiel sagte: »Das alles ist natürlich schon lange her. Seit er Erzmagier ist, hat er nicht viel getan. Die tun gewöhnlich wenig. Die sitzen hier auf Rok und passen auf das Gleichgewicht der Dinge auf, nehme ich an. Und er ist ja auch schon ziemlich alt.«

»Alt? Wie alt?«

»Oh, vierzig oder fünfzig.«

»Haben Sie ihn gesehen?«

»Natürlich habe ich ihn gesehen«, erwiderte Spiel kurz angebunden. Der königliche Idiot schien auch ein königlicher Affe zu sein.

»Oft?«

»Nein. Er bleibt meist für sich. Aber als ich nach Rok kam, habe ich ihn im Brunnenhof gesehen.«

»Ich habe heute auch dort mit ihm gesprochen«, sagte Arren.

Beim Ton seiner Stimme blickte ihn Spiel an und sagte ernsthaft: »Das war vor drei Jahren. Und ich war so verschüchtert, ich habe ihn gar nicht richtig angeschaut. Ich war natürlich auch noch ziemlich jung. Aber dort drinnen ist es schwierig, klar zu sehen. Ich erinnere mich hauptsächlich noch an seine Stimme und an den plätschernden Brunnen.« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Er hat einen gontischen Akzent.«

»Wenn ich mit Drachen in ihrer eigenen Sprache reden könnte, dann würde mir mein Akzent nichts ausmachen.«