Obwohl die Bären bei uns längst ausgerottet sind, gab es während meiner Kindheit viele Geschichten darüber, «was man einst von ihnen gelernt habe»: Das Sparen seiner Kräfte beim Jagen im Bergwald, das geschickte Suchen von Honig und Pilzen, sogar das Fischen an ruhig oder «faul» dahinströmenden Wassern.
Verschiedene einheimische Schriftsteller und auch fremde Beobachter wollten eine gewisse enge Verwandtschaft zwischen den echten Ur-Bernern und ihrem Wappentier nachweisen. Mit Friedrich August Volmar habe ich oft tagelang über die Bärensagen von den Alpen bis zum sibirischen Jakutien geredet. Er versicherte in einem Buch zum ganzen Kreis dieser Traditionen: «Nicht nur als zufälliges Wappentier führt man also den Mutz, man bekennt sich zu ihm wie zu einem Stammvater.»
Gerade dieser Historiker und Parapsychologe führt als äußere Übereinstimmungen zwischen den Bernern und ihrem Tier an: Die erdhafte gedrungene Gestalt und der kurze starke Hals, dazu selbstverständlich der muskulöse Nacken, besonders gerühmt bei den einheimischen Kraft-Männern, den Ringern. Die breite Brust und die machtvollen Arme, die stämmigen Beine und der selbstbewußt gelassene Gang. Das ganze behäbige Wesen und Gebaren. Dazu runde Köpfe, die eher zu gutmütigen Überlegungen neigen.
Der Aufstieg der Stadt Bern zur politischen Macht war stets von Bärensagen umwoben. Als Herzog Karl der Kühne sein Reich ausdehnte, war Fürst Renatus von Lothringen eines seiner ersten Opfer. Er eilte 1476 zu den Bernern, um bei ihnen bewaffnete Hilfe gegen den Feind zu erbitten. Sein zahmer Bär folgte ihm bis ins Rathaus und verstand, mit allerlei flehenden Gebärden die Herzen seiner menschlichen Verwandten zu rühren. Der Krieg, der als Folge entstand, veränderte das Gesicht Europas und beendete das eigentliche Mittelalter. Wenn dieser Bericht, den uns Conrad Gesner mitteilt, einigermaßen stimmt, müssen wir feststellen: Eine Geschichte der Völker ist unvollständig, wenn man deren mannigfaltige Beziehungen zu ihren Lieblingstieren vergißt.
Während nun der männliche Bär im Volk eher als meist gutmütiger Eigenbrötler und Lebensgenießer gilt, soll sein Weib die eigentliche sorgsame Hüterin der Familie sein. Gerade die Funde zum Bärenkult im bernischen Aaretal bestätigten den Wissenschaftler Johann Jakob Bachofen in seiner Lehre vom Matriarchat, dem Verständnis von Kulturen, in denen die Mütter die eigentliche Sorge für die Nachkommenschaft und damit auch die gesellschaftliche Macht besaßen.
Wenn man will, finden sich die entsprechenden Hinweise bereits im witzigen Werk Heutelia, das 1658 gedruckt wurde. Die männlichen Berner sind nach dieser Schilderung vor allem den Genüssen von Speis und Trank zugewandt: Es sind ihre klugen und von wirtschaftlicher Voraussicht erfüllten Frauen, die sich um die Erhaltung des gemeinsamen Besitzes kümmern.
Der fremde Reisende, der diese Zustände beobachtet, stellt zuletzt die Frage, warum hier nicht das kluge weibliche Geschlecht öffentlich die Politik steuere? Die Antwort der Damen der Bärenstadt ist bezeichnend: Die Männer, die im Rat herumsitzen und sich dort eher schläfrig erholen, müssen einen strengen Eid leisten. Dieser lautet, daß sie auf keinen Fall ihre Entscheidungen von irdischem Gewinn beeinflussen lassen... Die Frauen müssen dagegen nicht schwören, also werden sie von den fremden Gesandten mit Geschenken überschüttet. Anschließend sagen sie dann ihren Gatten, in welcher Richtung sie am Schicksal Europas mitzubasteln hätten.
Das winzige alte Bern hatte, genau für diese sprichwörtliche Lust an Speis und Trank, mehr als 200 (!) Kellerwirtschaften. Noch heute rühmt die lebendige Sage diese einstigen Schauplätze der allgemeinen Volkslust: Sie seien richtige «warme Bärenhöhlen» gewesen. In ihnen konnte man echt «gemütlich Zusammensein» und erkennen, daß auch das Leben «in der schützenden Mutter Erde» einen wahren Genuß darstelle.
Das geehrte Waldtier
Eine wichtige Eigenschaft, die dem Bären von seinen menschlichen Verehrern stets zugeschrieben wurde, ist seine Güte gegenüber den Schwachen und Schutzbedürftigen: Besonders die «Mütterlichkeit» des Tierweibchens wurde gerühmt.
Von Nordrußland und Sibirien bis in den Alpenraum wird die gleiche Jägergeschichte erzählt: Zwei Männer gingen in den Wald. Sie saßen nächtlich am wärmenden Lagerfeuer und hatten ihre beiden Gewehre an einen Baum gelehnt. Da erschien ein gewaltiger Bär, so daß es ihnen unmöglich war, zur Waffe zu greifen. Einer der beiden kletterte einen Stamm hinauf, fast bis zum Wipfel. Dem anderen blieb zur Flucht keine Zeit. Er warf sich nur flach auf den vereisten Erdboden.
Der mächtige Waldkönig beschnüffelte lange den Liegenden und trottete dann freundlich brummend ins Dickicht. Als der Gefährte sah, daß die Gefahr vorüber war, stieg er von seinem Baum herab und fragte den Kameraden, der sich langsam von seinem Schrecken erholte: «Hat dir der Bär, als er an dir herumschnüffelte, etwas ins Ohr geflüstert?» Der andere antwortete: «Er erzählte mir eine alte Weisheit des Waldes. Du sollst nie mit jemandem jagen gehen, der sich in der Gefahr rettet, ohne sich um seine Gefährten zu kümmern.»
Der Bär soll sehr ritterlich sein, und sein Weibchen von einer vorbildlichen Freundlichkeit gegenüber den hilflosen Jungen. Die alten Tierbücher schildern die Kleinen, die noch nicht lebensfähig zur Welt kommen, als unvollkommene, fast reglose Fleischklümpchen. Die unablässige Sorge und das liebevolle Lecken ihrer Mutter schenkt ihnen erst die notwendige Kraft zum Leben. Nur dank einer mustergültigen Pflege werden sie dadurch nach und nach zu richtigen niedlichen Geschöpfen. Es ist also die Mutterliebe, die sie zu Riesentieren heranwachsen läßt.
Es gibt zahlreiche an sich ziemlich widersprüchliche Nachrichten über einen mittelalterlichen «Bären-Orden». Er soll genau wegen der geschilderten Eigenschaften der Waldbären entstanden sein. Ihm schlössen sich vor allem jene großzügigen Edelleute an, die dem Volk in seiner Entwicklung mit Freundlichkeit und Voraussicht zu helfen versuchten. Der weitblickende und weltgewandte Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen soll ihn gegründet haben: Damit würde sehr gut übereinstimmen, daß von diesem Herrscher die «Goldene Bulle» stammt, die die Stadt Bern an der Aare 1218 erhielt - und die für jene Zeit erstaunliche Freiheitsrechte enthält.
Über die Entstehung dieser «Bärenstadt» gibt es im übrigen viele Tiersagen. In unmittelbarer Nachbarschaft, in der Gemeinde Muri an der Aare, fand man die «Bärengöttin» aus keltisch-römischer Zeit. Es ist eine stolze Frau zusammen mit dem «mütterlichen» Tier: Mit Recht hat man angenommen, daß dies eine Naturmacht war, wie sie die Einheimischen wohl bereits vor dem Beginn unserer Zeitrechnung hoch verehrten.
Die gewöhnliche Sage um den Namen der Stadt Bern, die bereits für das Mittelalter bezeugt ist, macht es sich verhältnismäßig einfach. Herzog Berchtold von Zähringen habe sie im Wald gegründet, weil er mit seinen Jägern ein feierliches Versprechen tat: An einem bestimmten Tage des Jahres 1191 sollte seine erste Beute der neuen Stadt den Namen schenken.
Selbstverständlich gibt es für diese Geschichte eine Reihe sehr abweichender Fassungen. Hier eine hübsche Dichtung um die Stadtlegende, wie sie bereits 1809 gedruckt wurde: Als das mittelalterliche Burgunderreich (888-1032) in blutigen Wirren versank, verschwanden nach und nach alle Zeichen der einstigen Kultur. Die Wälder dehnten sich zwischen Rhein und Alpen von neuem aus, gewalttätige Räuberbanden nisteten sich überall ein.
Die junge Witwe Mechthildis hatte in all den blutigen Schrecken ihren Gatten verloren. Von den Menschen verlassen, irrte sie durch die gefährlichen Wälder, die den Fluß Aare umgaben. Auf einmal wurde sie mit ihrem kleinen Kind von einem grimmigen und halbverhungerten Wolf angegriffen.
Da tauchte eine Bärenmutter aus dem Dickicht auf. Sie erkannte mit einem Blick die Not der Menschenmutter und warf sich wie rasend auf das Raubtier. Ein gnadenloser Kampf entstand, der lange schwankte und erst nach einer geraumen Weile seine Entscheidung fand. Unter den mächtigen Prankenschlägen lag endlich der Wolf in seinem Blute. Aber auch die mutige Bärin hatte eine Unzahl von Bissen abbekommen. Sie konnte sich nur noch mühsam in ihre Höhle schleppen.