Unter den «Großen Trümpfen (arkanen)» des Tarot war ihr besonders das Bild 18 wichtig. Es zeigt die Nacht und den «über unseren geheimnisvollen Lebenspfaden» schimmernden Mond: Gerade dieser bedeutete ihr zufolge die «tierische Lebenskraft in uns» (la force animale et vitale). Die «Sonne der Nacht» steuert nach dem Volksglauben Ebbe und Flut, Wachstum und Vergehen aller irdischen Wesen. Wir erkennen dies in der monatlichen «Reinigung» der Frauen, deren durchschnittliche Dauer «einen Mondmonat von 28 Tagen» beträgt.
Drohend stehen um den «Weg durch alle unsere Leben» (le chemin de toutes nos vies) zwei Türme, die wohl düstere Kerker enthalten. Vor beiden heult je ein gefährlicher tierischer Wächter den Mond an. Sie gleichen sich in ihren Umrissen und sind doch zwei verschiedene Geschöpfe. Meistens werden sie in der Wahrsage als «Wolf und Hund» gedeutet. Die aus dem Osten einwandernden Stämme haben beide Tiere mit ihren Vorteilen und Gefahren kennenlernen müssen.
Die Erklärung des Sinnbilds lautet: Bist du in der Wildnis, hast du es mit den hungrigen Wölfen zu tun. Bist du nahe der menschlichen Behausungen, dann können dich die den Besitz hütenden Bluthunde anfallen. Du kannst es machen, wie du willst, du mußt dir eins der beiden Tiere als Sinnbild wählen. Eigentlich hat jeder Mensch den einen wie den ändern in sich, jedoch nicht gleichermaßen.
Der Wolf ist nach Erfahrung der Nomaden stark, schnell, listig, mit überwachen Sinnen begabt, oft fast krankhaft in seine wilde Freiheit verliebt. Unabhängig und gefürchtet streift er durch die Öden, deren nächtliche Wunder und Schönheiten er kennt wie wohl nicht viele andere Wesen. Doch sein Zustand hat viele Nachteile: Um seine volle Kraft immer neu zu gewinnen, braucht er viel frische Nahrung. Aus diesem Grunde nagt in seinen Eingeweiden meist ein unstillbarer Heißhunger. Er lebt fast mit der ganzen übrigen Welt in erklärter Feindschaft; Rast und gemütliche Ruhe sind für ihn beinahe unbekannte Begriffe.
Der Haushund dagegen hat in der Regel die Schrecken der Wildnis vergessen. Er wird sorgsam gefüttert. Im rauhen Winter besitzt er sein warmes Schlafplätzchen. Sein Besitzer zeigt ihm seine Liebe, streichelt und lobt ihn, was ihm Genuß bereitet; doch er ist dafür ein treuer Diener, der nur nach Befehlen handelt. Lebt eine Hunderasse zu lange bequem, beginnt ihre Entartung. Sie verliert leicht die Schärfe der Sinne und die Stärke der Sehnen.
So geht es, nach den Wahrsagerinnen der Nomaden, auch den menschlichen Völkern auf ihrem Lebensweg. Hausen sie in der wilden Natur, sind sie fast unbesiegbar. Sie leben unter Bedingungen, die uns unvorstellbar erscheinen. Werden sie aber «zivilisiert», dann nehmen ihre ursprünglichen Energien nach und nach ab.
Der Wolfsmensch wird von Hunger und Winterkälte gehetzt. Der entspannte Lebensgenuß ist ihm unbekannt. Der Hundemensch hat es warm, und es wird ihm von seinen Herren (meistens) pünktlich der Bauch gefüllt; aber wenn er sich nicht um eine gewisse Mäßigkeit bemüht, wird er fett und verweichlicht; zur starken Lebensfreude fehlt ihm dann immer mehr die Energie.
«Es ist schön, in den Häusern der Gadschos (Seßhaften) warm baden zu können», sagte uns um 1960 die weise Fahrende und Tarot-Philosophin: «Verlieren wir aber völlig den wilden Wolf in uns, geht es uns fast schlimmer als in der winterlichen Wildnis. Wir erlauben uns nicht einmal zu fressen, wenn uns niemand dazu den ausdrücklichen Befehl erteilt.»
Auch andere Lebenssymbole wurden gern auf diesem Bild dargestellt. Der Tarotkenner Basil Ivan Rakoczi versichert uns, «daß man auf den Karten gewisser Wahrsager» drei menschliche Gestalten sieht. Es sind die gleichen, welche die Fahrenden gerne bei ihren Festen (fetes bohemiennes) den Anwesenden vorspielen Auch sie sollen die unerbittlichen Gesetze des Daseins deutlichmachen.
Da ist eine Frau, die schöne Colombina, die von den Fahrenden mit der «Mond-Dame» selber gleichgesetzt wird. Sie ist gleichsam das Bild alles Weiblichen. Dann treten zwei Männer in Jugendblüte auf, die sich beide um die Frau bewerben. Der eine ist der mondbleiche, übermäßig zartfühlende und verträumte Pierrot. Der andere ist der leidenschaftliche, von Lebenskraft erfüllte, bunte Wildfang Harlekin.
Das Tarot-Bild «Mond» oder «Nacht» heißt dann, wiederum nach Rakoczi, bei den europäischen Nomaden und Wahrsagern «Karte der Träume». Die Deuter sind überzeugt, daß es für unser «glückliches Überleben» und die Durchsetzung unserer Wünsche im Dasein beides braucht, sonst können wir unmöglich das Ziel unserer Sehnsucht erreichen.
Wir haben eben alle, wenn auch in verschiedenem Maße, beide in uns: Den mondsüchtigen Dichter und Träumer, den so leicht enttäuschten und vor jeder irdischen Schwierigkeit zurückschreckenden Pierrot; und den stets angriffigen, durch alle Widerstände und Gefahren nur herausgeforderten zähen Nachtmenschen Harlekin: «Wir brauchen beide», lehrt uns die Überlieferung.
Vampire
Es schwebt durch die Dämmerung
Eines der schönsten Gedichte, das Wolfgang von Goethe schrieb, ist seine Braut von Korinth. Zur Zeit des frühchristlichen Griechentums wird ein sinnliches Mädchen durch den grausamen Religionszank von seinem Geliebten getrennt. Sie stirbt, holt aber den Freund in das Totenreich.
Goethe verdankt gerade diese unsterbliche Dichtung seiner leidenschaftlichen Beschäftigung mit den griechischen Überlieferungen und mit okkulten Lehren. Er wollte, entsprechend seiner großzügigen Lebensphilosophie, die starke Liebe als eine Urmacht darstellen. Es sei für sie leicht möglich, sogar den Tod zu überwinden. Seine Darstellung der Leidenschaft, gegen die das Grab machtlos ist, wurde im übrigen durch Sagen aus dem Balkan bestätigt.
Bis ins 18. und 19. Jahrhundert dehnte sich schließlich das Reich der türkischen Sultane über Kleinasien und Griechenland bis nach Serbien, Ungarn, Rumänien und die Ukraine. Große Teile dieser Länder übernahmen die griechisch-christliche Religion. Dieser ganze Raum erschien deshalb den Deutschen und anderen Europäern als geistige Einheit. Man glaubte dort verborgene Inseln der vielbewunderten antiken Kultur zu entdeken.
Auch ein Held des Dichters Alexej Tolstoi vergleicht im Roman Die Vampir-Sippe das schöne Vampir-Mädchen in ihrem Wesen und Aussehen mit griechischen Göttinnen. Tolstoi war im übrigen ein großer Goethe-Verehrer. Seine russische Meisterübersetzung der Braut von Korinth gilt als klassisch und geradezu vorbildlich.
Diese eigentlichen Bahnbrecher der Vampir-Dichtung waren wohl viel näher bei der ursprünglichen Wahrheit als all die Verfasser der schaurigen Gruselgeschichten. Die Vampire werden von diesen meist mit den unheimlichen, Menschenblut saugenden Untoten verwechselt. Sie besitzen die Reißzähne eines Raubtieres, was aus den Geschichten um die Werwölfe stammt. Kein Weib ist vor diesen okkulten Wüstlingen sicher. Lachend sagte mir deshalb in Hollywood ein amerikanischer Psychiater: «Wahrscheinlich brauchte man die tausendfach durch Filme geschürte Vampir-Furcht. Sonst hätte man unseren konservativen Hinterwäldlern (Hilly-Billies) kaum schmackhaft machen können, bis in den Wilden Westen die elektrische Beleuchtung einzuführen.»
Immerhin ist hier eines zu berichtigen: Gerade viele Einwanderer aus den «Vampir-Ländern» von Böhmen bis Anatolien haben eine rührende Zuneigung zu den «Kunstwerken» dieser Art. Hier können sie Bilder der Naturlandschaften und Dörfer ihrer längst verlorenen Heimat wiederfinden. Daß der Hintergrund der Filme so gestaltet ist, verdanken sie sicher einer Reihe von Erfindern und Darstellern der Gruselgeschichten. Man kann es leicht feststellen: Unter diesen befinden sich auffallend viele osteuropäische Namen. Der Ungare Bela Lugosi will in Amerika 550 Mal den Grafen Dracula und andere Vampire dargestellt haben. Er versichert, einen gewissen Zauber in die Rollen gebracht zu haben, weil er von den Wesen der Nacht als Kind hörte.