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Roerich hat sich sehr mit den indisch-tibetanischen Überlieferungen beschäftigt, in denen er die Schlüssel zu den meisten Märchen von Osteuropa zu finden versuchte. Wie auch in den Märchen um die Waldhexe Baba Jaga und ihre Tochter, erscheinen hier die Drachenschlange und das Schlangenmädchen als zwei Seiten der gleichen Kraft.

Die «wilde» Schlangenfrau und der Drache sind die Bilder für die Urkraft der Natur, die eigentlich nichts auf der Welt aufzuhalten vermag. Wenn sie entfesselt ist, tobt die unbarmherzige Zerstörung. Die gewaltigen Stürme toben. Die mächtigsten Bäume gehen, wie die stolzen Bauwerke der Menschen, in Flammen auf. Gegen diese Energien gibt es in den Märchen eigentlich nur ein Gegenmittel. Der Held gewinnt es, wenn er die Schlangentochter liebt: Sie beherrscht die gleiche Energie, verwendet sie aber sanft, im Dienst ihres Geliebten und der übrigen Geschöpfe.

Das uralte, bis in den modernen Volksglauben fortwirkende Wissen um diese «Schlangenkraft» versuchte Monnier, der Volkskundler von Burgund und Jura, nachzuweisen. Er erinnerte nicht nur an die reichlich erhaltenen Legenden sondern verwies auch auf eine Reihe von alten Darstellungen, wie sie sich im Raum westlich der Alpen und in angrenzenden Landschaften Frankreichs finden.

Das Wissen dieses vergessenen Gelehrten war erstaunlich: Er stellte fest, daß die Inder eine Schlangenkraft (kundalini) kennen, die durch alle Geschöpfe strömt und ihnen die Lebens energie schenkt. Dies erkennen wir auch an den erwähnten mystischen Bildern, in denen häufig eine Frau in Verbindung mit einer sich in die Höhe windenden Schlange dargestellt wird. Der Forscher Monnier neigte sogar zu der Annahme, die Verehrung der Schlangenkraft sei durch Einwanderer von Indien her in seine auf ihre Überlieferung stolze Heimat gekommen.

Die Sagen um die Schlange, die uns alle Schätze verschaffen kann, ist im Alpenraum außerordentlich häufig. Sie haust in der einsamen Wildnis oder auch in malerischen Schloßruinen. Auf dem Haupt trägt sie ein Goldkrönchen, manchmal auch einen funkelnden Edelstein auf der Stirne. Wer dieses Kleinod zu gewinnen vermag, der schreitet fortan in seinem Dasein von Sieg zu Sieg.

Die Schlange dieser Volksmärchen ist weiß-glänzend oder sie schillert in den reinen Farben des Regenbogens. Es ist für den Helden beinahe unmöglich, ihr Goldkrönlein oder auch den Schlangenstein auf ihrer Stirne zu gewinnen: Verweist er auf das «Schlangen-Ei» des Magiers Merlin und der keltischen Druiden, das ihnen einst alle Möglichkeiten eröffnet haben soll?

Unter den Schatzgräbern soll, wie ich es von einheimischen Fahrenden vernahm, folgende Anleitung bestehen: Du spürst «mit Haut und Haaren» an einem Platz in den Waldbergen, daß dort im Boden ein Goldhort ruht. Wenn du dich nun «in der richtigen Stunde» der Nacht zum gleichen Platz begibst, liegt dort eine schrecklich aufleuchtende Riesenschlange. Jetzt bleibt dir nur eins zu tun: Du mußt sie «ohne jede Furcht» küssen, gelegentlich heißt es «dreifach».

Gelingt es dir, dann folgt ein Donnerkrachen. Die Schlange verwandelt sich «blitzartig» in eine wunderschöne Jungfrau, vielleicht eine verwunschene Königstochter aus grauen Urzeiten. Sie ist nun durch dich «erlöst» und schenkt dir die Schlüssel zu ihren unterirdischen Gewölben. In ihnen findest du alles, was dein Herz begehrt, Schätze der Könige aus ferner Vergangenheit, Kristalle und Edelsteine «von sämtlichen Farben», wie sie in der Erdtiefe wachsen; Zauberbücher «noch aus den Tagen des weisen Königs Salomo», in denen alle Naturgeheimnisse ausführlich und verständlich erklärt sind.

Der Burgunder Monnier war nach meiner Auffassung auf der richtigen Spur. Es ist hier hinter der Bildersprache der einheimischen Symbole das Gleiche zu erkennen, was uns die esoterischen Wissenschaften aus Indien versichern. Danach ruht tief in unserem Unterleib die Kundalini-Schlangenkraft. Können wir sie erwecken, strömt sie in Schlangen windungen nach oben, alle unsere Körperteile gleichermaßen belebend. Erreicht sie unser Oberhaupt, wird durch diese Steigerung der Lebenskraft das schlafende «Dritte Auge» lebendig.

Es glüht nun «wie ein funkelnder Edelstein» auf. Mit ihm glauben die indischen Seher, in alle göttlichen Rätsel der Natur Einblick zu erhalten. Sie malten es darum gern auf die Stirn ihrer Helden und sogar auf die ihrer Märchentiere.

In der Höhle der Baba-Jaga

In den ostslawischen Sagen, die bis heute lebendig sind, kommt häufig eine fast allmächtige Waldfrau «Baba Jaga» vor. Der erste Teil ihres Namens bedeutet «Weib», wird aber oft für eine alte Frau, Großmutter oder Hebamme verwendet. Am Sinn von «Jaga» haben die Sprachforscher lange herumgerätselt. Einige vermuteten, der Ausdruck bedeute «Feuer»: Agni bei den Indern, Jag bei den europäischen Zigeunerstämmen, ogon bei den Slawen, ignis im Lateinischen.

Meine Großmutter, der ich die alten Märchen verdanke, nannte Baba-Jaga die Schlangenfrau, die «Schlangen-Kaiserin» (Zmeja-Zaritza). Dies würde selbstverständlich sehr gut mit einer anderen Ableitung von Jaga übereinstimmen: Der Forscher Krek sah auch hier eine alte Bezeichnung für Schlange! Er verwies darauf, daß dieses Tier litauisch und preußisch noch angis heißt: Die Waldfrau wäre demnach wörtlich wiederum die Schlangenfrau.

Wenn im Dorfe der Menschen das Feuer erlischt, muß etwa die Märchenheldin in die Wildnis zu Baba Jaga gehen, um für die Herde eine «neue Flamme» zu holen. Sie muß selbstverständlich sehr schwere Prüfungen bestehen, um diese Gabe zu erhalten. Sie tut es auch, besiegt alle übermenschlichen Schwierigkeiten - und kommt zum guten Ende zu ihrem Lebensglück.

Im übrigen besitzt die Waldfrau Baba Jaga in den Märchen eine Reihe von wahrhaftig wunderschönen Töchtern. Sie sind ebenfalls Trägerinnen der Gabe, mit den Tieren über ihre Geheimnisse zu reden. Gelegentlich nannten die Märchenerzählerinnen diese jungen Frauen ausdrücklich «Russalken», als Nymphen, «Wassermädchen» des Waldes und dessen Quellen.

Ein solches Mädchen zur Gattin zu erhalten, gilt im übrigen in den alten Geschichten als höchstes Glück auf Erden. Nicht nur kann sie durch ihre ererbte und erlernte Magie den Helden aus der Wildnis und aus anderen Gefahren befreien. Dank ihrer als «maßlos» geschilderten Liebe gibt es so ziemlich kein Glück, das von nun an nicht auf ihren Freund herniederregnet. Er wird schön, reich, angesehen und erwirbt manchmal die Fürstenkrone. Die Kinder der beiden sind der Anfang einer wunderbaren Sippe, die wegen ihren hohen Begabungen alle Völker verwundert.

Musäus, der Sammler von mittelalterlichen Märchen, erzählt eine sehr malerische Geschichte über die Bewohner der geheimnisvollen Waldwohnungen. Die drei Knappen des Helden Roland kommen im einsamen Pyrenäengebirge zum Eingang einer Felshöhle, vor der ein Kochtopf über dem Feuer einen Menschen verrät. Sie vermuten «einen gastfreien Einsiedler», doch sie treffen auf eine uralte und zaubermächtige Hexe.

Obwohl die Dame bei Musäus in den Pyrenäen haust, gleicht sie der slawischen Baba Jaga wie ein Ei dem anderen. Auch sie steht den magischen Reptilien nahe. Sie besitzt als wichtiges äußeres Merkmal «neun Reihen Schlangenaugen, die sie wie Perlenschnüre um den Hals trägt». Dieser Schmuck verleiht seinem Besitzer, wie es ausdrücklich heißt, die Eigenschaft, «Herrengunst und Frauenliebe zu erwecken». Im übrigen hat auch sie die Fähigkeit, die man früher überall den Schlangen zuschrieb, sich durch Hautwechsel dauernd zu erneuern. Verbringt die Gebirgshexe mit einem menschlichen Gast eine Liebesnacht, wird sie dadurch jedesmal «um dreißig Jahr verjüngt».

Die Pyrenäen-Hexe haust also hier mit ihrem Gesellen, einem Kater mit offensichtlich magischen Eigenschaften: «Seine Augen funkelten so hell wie die Augen der Lieblingskatze des Petrarca, deren Schimmer dem Dichter als Lampe diente, ein unsterblich Lied an seine Laura niederzuschreiben.»