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»Trefflich gesagt, verehrter Mattheiß!«, lobte ihn die Bassstimme von Stiftsherr Rufinus. »Der März ist nicht nur der Monat der Baumblüte und des Erwachens der Natur aus der Zeit der winterlichen Erstarrung, sondern im biblischen Chronos die gnadenreiche Zeit göttlicher Erneuerung und Erlösung!«

Jakob glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Drei Kirchenmänner von Rang beschäftigten sich ernsthaft mit der Frage, an welchem Tag die Verkündigung des Erzengels an Maria ergangen sei und wann die Gottesmutter wohl empfangen habe? Ebenso fassungslos wie fasziniert, lauschte er dem Gespräch im Parlatorium, das plötzlich eine noch wunderlichere Note erhielt, als der Mann namens Dederich sagte: »Nun, in dem Datum der Verkündigung und der Empfängnis sind wir uns trefflich einig und mir scheint, dass wir jedwede Einwände falsch geleiteter, kirchlicher Zweifel mit der geradezu erdrückenden Kraft unserer Argumente zum Schweigen bringen werden. Doch was die genaue Stunde der Verkündigung und Empfängnis durch den Heiligen Geist betrifft, so mangelt es in unseren eigenen Reihen noch immer an einer Übereinstimmung. Wie Ihr wisst, haben meine Betrachtungen, Forschungen und Gebete um Erleuchtung mich zu der Erkenntnis geführt, dass dies nur in der Morgenstunde geschehen sein konnte. Gott begann sein Schöpfungswerk, als die Sonne aufging und der erste Tag begann. Was die Erschaffung der Sonne für die noch nicht von Gottes Ebenbildern bewohnte Erde darstellt, findet seine Entsprechung in der Menschwerdung Jesu für uns sündige Kreaturen. Folgerichtig wird also auch die Erlösungsgeschichte im hellen Licht eines neuen Tages begonnen haben!«

»Gewiss, die Morgenstunde scheint sich unter diesem Aspekt förmlich aufzudrängen und wenig Platz für eine andere Möglichkeit zu lassen«, räumte Stiftsherr Mattheiß ein, um dann mit Leidenschaft seinen Standpunkt vorzutragen. »Nur gebe ich zu bedenken, dass auch nicht wenig für die Mittagsstunde spricht. Ist denn nicht die Geburt Isaaks und Johannes’ zur Mittagszeit angekündigt worden? Und hat man Jesus nicht auch in der Mitte des Tages ans Kreuz genagelt? Am Mittag erreicht die Sonne ihren Zenit und damit ihre stärkste Kraft. Liegt es da nicht nahe anzunehmen, dass das göttliche Wort, die >Sonne der Gerechtigkeit, wie es schon bei Maleachi Kapitel 3, Vers 20 geschrieben steht, zu dieser Stunde in der Gottesmutter Fleisch geworden ist? Und geschah es nicht während der heißen Mittagszeit, dass Abraham, im Eingang seines Zeltes sitzend, von drei Männern die unglaubliche Kunde erhielt, dass seine alte Frau Sara noch binnen Jahresfrist froher Hoffnung sein werde? Auch geschah die Bekehrung des Christenverfolgers Saulus in den Apostel Paulus, als die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, wie es in der Apostelgeschichte verzeichnet ist. All dies sind nur einige Beispiele dafür, dass der Mittag in der heiligen Mutter Kirche schon immer als die Zeit göttlicher Epiphanie gilt. Ich denke, diese gewichtigen Argumente, die auf den Mittag als die geheiligte Stunde hinweisen, dürfen wir nicht leichtfertig von der Hand weisen.«

»Wir werden Eure Hinweise mit der größten Sorgfalt, wie sie diesem Thema angemessen ist, studieren, lasst Euch dessen versichert sein, mein lieber Mattheiß«, versprach Stiftsherr Rufinus. »Aber nicht allein Morgenstunde und Mittagszeit können schwerwiegende Argumente für sich ins Feld führen! Bedenkt, dass der Abend die Fülle des Tages ist. Und hat nicht der Allmächtige, als nun die >Fülle der Zeit< gekommen war, wie wir im Galater 4, Vers 4 nachlesen können, uns nicht seinen Sohn geschickt? Auch für Mitternacht, wo die Finsternis am größten ist, spricht einiges. Dem Propheten Jeremias erschienen zu mitternächtlicher Stunde Engel, die ihm den bevorstehenden Untergang Israels ankündigten. Und weist nicht auch das Wort des Propheten Jesaja in Kapitel 9, die Verheißung der Geburt des göttlichen Kindes, unmissverständlich auf Mitternacht hin? Dort steht geschrieben: >Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein helles Licht; über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns geschenkt. Man nennt ihn Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens.< Ohne Zweifel herrschte doch tiefste Nacht, als das Licht der Erlösung mit Maria Verkündigung und Empfängnis aufging.«

»Euer Hinweis auf die >Fülle der Zeit< verlangt in der Tat eingehende Betrachtung und Abwägung«, antwortete Mattheiß. »Jedoch nach kanonischen.«

Jakob, der dem Gelehrtendisput gefesselt zugehört hatte, bekam nicht mehr mit, welchen Einwand der Stiftsherr Mattheiß nun vorbrachte.

Denn in diesem Augenblick sagte hinter ihm eine spöttische Stimme: »So dunkel ist die Pilgerstraße und Irrgeleucht von allen Seiten.«

Jakob fuhr erschrocken herum, wie ein auf frischer Tat ertappter Dieb. Der Schwede Henrik Wassmo stand auf halber Höhe der Treppe gegen das steinerne Geländer gelehnt. Der schon vielfach geflickte Umhang aus dickem, mitternachtsblauem Stoff lag um seine Schultern. In der linken Hand hielt er ein Stück mageren Speck, in der rechten ein Federmesser mit schmaler Klinge. Jakob hatte diesen merkwürdigen Mann, den Begleiter dieses kaum weniger merkwürdigen Mönches mit der Augenklappe, nicht kommen gehört. Hatte er vielleicht schon eine ganze Weile in seinem Rücken gestanden und ihn dabei beobachtet, wie er dem Disput der drei Stiftsherren lauschte?

Jakob wusste nicht, was er von dem unerwarteten Auftauchen des Schweden und dessen Bemerkung halten sollte. Sicherlich war aber eine Erklärung, möglicherweise sogar eine Entschuldigung angebracht. Und so sagte er mit einem verlegenen Achselzucken: »Die Stimmen der ehrwürdigen Stiftsherren tragen so weit, dass man hier draußen jedes Wort verstehen kann. Man braucht sich noch nicht einmal anzustrengen.« Und als der Schwede nichts darauf erwiderte, sondern ihn nur schweigend ansah, da setzte er mit einem gequälten Lächeln hinzu: »Mir wäre es nie in den Sinn gekommen, dass sich gelehrte Kirchenmänner den Kopf darüber zerbrechen könnten, zu welcher Stunde die Verkündigung erfolgt ist und wann Maria empfangen hat. Aber wenn man es recht betrachtet, warum eigentlich nicht?«

Der Schwede schien ihm eine Antwort schuldig bleiben zu wollen. Wortlos stieß er sich vom Geländer ab und kam die Treppe herunter. Dabei schnitt er sich ein Stück von dem herrlich mageren Speck ab und schob es sich in den Mund. Als er bei Jakob angelangt war, blieb er stehen, warf einen kurzen Blick auf die Tür zum Parlatorium und sagte nun: »Kein Buch kann Seine Werke fassen, kein Mund verkündet Seinen ganzen Ruhm.«

Irritiert sah Jakob ihn an. »Ihr haltet also nichts von solchen Betrachtungen?«

Der Schwede verzog den Mund. »Die Könige der Welt erkühnen sich, Gott aber lacht und spottet ihrer«, antwortete er und Jakob war sicher, dass diese Worte genauso aus irgendeinem Psalm stammten wie all die anderen Äußerungen, die er bisher von ihm gehört hatte. »Ihr Toren, weicht mit Eurem Plunder! Die höchste Liturgie sei Euch die Liebe!«

Jakob nahm sich ein Herz und fragte keck: »Und in welchen Psalmen kann ich Eure Antworten wiederfinden?«

Nicht ein Muskel bewegte sich im Gesicht des Schweden. »Glücklich zu preisen, wer nicht Bösen Gehör schenkt, den Trott der Sünder nicht mitmacht und nicht auf der Spötterbank sitzt!«, lautete seine ruhige Antwort. »Denn der Herr sieht auf des Menschen Schritte.«

Jakob fragte sich verunsichert, ob das eine Zurechtweisung oder ein guter Ratschlag sein sollte. Denn weder die Stimme noch das pockennarbige Gesicht des Schweden verriet, wie er seine Worte verstanden wissen wollte.

Und dann tat der seltsame Begleiter von Bruder Basilius etwas, was Jakob vollends durcheinander brachte: Er schnitt mit dem Messer eine fingerdicke Scheibe Speck ab, spießte sie mit der Klinge auf und hielt sie ihm hin.