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Nachforschungen

Sonntag, 8. September 1619

»Jack hat wirklich gedacht, dass die Kinderdiebe mich erwischt hätten.« Seit der Begebenheit am vorherigen Tag hatte Eliza die Geschichte immer wieder erzählt. »Stellt euch das mal vor. Dabei hab ich doch nur dem Mann zugeguckt, der die Orangen in die Luft geworfen hat. Nicht nur eine, sondern gleich ganz viele und alle auf einmal.«

Der Schreck des Vortags steckte Jack noch in sämtlichen Gliedern. Er war tatsächlich überzeugt gewesen, dass nun auch Eliza spurlos verschwunden sei. Nachdem er, enttäuscht, dass der rothaarige Junge doch nicht sein Bruder gewesen war, zurück zu den beiden anderen Kindern gehen wollte, entdeckte er nur Tommy am Straßenrand. Das kleine Mädchen konnte er im Trubel nirgendwo sehen. Der Neue hatte Jack die ganze Zeit beobachtet, und wohin Eliza verschwunden war, das wusste er nicht.

Doch alles war gut ausgegangen, denn einen Augenblick später hatte Jack Eliza in einer Gruppe von Zuschauern entdeckt, die um einen Jongleur herum standen. Heute würden Eliza und Tommy mit Maggie auf Diebestour gehen. Jack hatte andere Pläne.

»Dann bis heut Mittag«, verabschiedete er sich. Maggie und die beiden Kleinen bogen links Richtung Jahrmarkt ab, er dagegen eilte rechts auf die Brücke zu. Später hatte er sich am Brückenhaus mit ihnen verabredet, um Tommy wieder zu übernehmen. In der Zwischenzeit wollte Jack endlich den Buchhändler zum schwarzen Schwan im Kirchhof von St. Pauls aufsuchen. Zwar war es unwahrscheinlich, dass der Mann sich noch an den Tag erinnerte, doch man konnte nie wissen. Auf jeden Fall durfte er nichts unversucht lassen.

Die alte Kathedrale von St. Pauls stand mitten in der Stadt, auf der anderen Seite des Flusses. Seit im vergangenen Jahrhundert ein Blitz im Kirchturm eingeschlagen hatte, war der Kirchturm oben flach. Da das Geld fehlte, hatte man die abgebrannte Spitze nie wieder aufgebaut. Jack hatte die Kirche oft zusammen mit Ned besucht, doch selten, um zu beten. Im Kirchenschiff, zwischen den hohen Säulen, ging es so betriebsam wie auf einem Marktplatz zu. Geschäftsleute schlossen dort Handel ab, Anwälte besprachen ihre Fälle, arbeitslose Dienstboten konnten sich nach einer neuen Stelle umsehen. Für Taschendiebe wie Jack und Ned war das leichte Beute. Die Buden der Buchhändler, die sein Bruder besonders liebte, standen auf dem Kirchhof vor der Kathedrale.

Im Kirchhof angekommen, musterte Jack jetzt ungeduldig die Stände und Verkaufsbuden, die sich dort dicht an die Mauer drängten. Wo war der Laden zum schwarzen Schwan? Hatte Guy ihn nur zum Besten gehalten? Noch war es um diese Tageszeit ruhig hier, doch die meisten Buchhändler hatten ihre Ware, trotz des Wochenendes, bereits ausgelegt. Ein grauhaariger Mann gleich neben dem Tor hatte seine winzige Verkaufsbude mit Büchern so vollgestopft, dass es aussah, als würden sich die Bretter biegen. Gerade hängte er lose Titelseiten an eine Schnur entlang des Ladentisches, auf dem sich ebenfalls stapelweise Bücher türmten. Über der Bude, an einem Stab rechtwinklig zur Wand, baumelte eine runde Holzscheibe, die mit einem grünen Drachen bemalt war.

»Wissen Sie, wo ich den Buchhändler unter dem Zeichen des schwarzen Schwans finden kann?«, fragte Jack den Mann, der freundlich von seiner Arbeit aufblickte und den Jungen interessiert über den Rand seiner Brille musterte.

»Der schwarze Schwan, das ist John Draytons Laden. Der liegt dem Haupteingang der Kirche genau gegenüber.« Er deutete die Mauer entlang.

Obwohl Jack vor lauter Schildern den schwarzen Schwan immer noch nicht sehen konnte, bedankte er sich und lief an den Ständen und Buden entlang in die angegebene Richtung. So viele Bücher! Der Junge wunderte sich jedes Mal, wenn er hierherkam. Auf jedem Verkaufstisch häuften sich Berge von Lederbänden und jede freie Stelle an den Wänden war mit Flugblättern bedeckt. Welch wundersame Dinge wohl auf all diesen Seiten standen? Für Jack waren Buchstaben nichts als schwarze Muster. Wieder musste er an Ned denken. Wann immer sie hierhergekommen waren, hatte er darauf bestanden, die Bücher durchzublättern. Meist wurden sie verjagt, doch manche Händler hatten nichts dagegen, dass sie die Illustrationen von wilden Tieren, exotischen Pflanzen und anderen seltsamen Dingen betrachteten. Zu Hause auf Molls Dachboden versuchte der jüngere Bruder dann oft, selbst Bilder zu malen, mit Kohle auf den Dielenbrettern und Balken. Auch an den Zunftzeichen über den Läden konnte sich Ned nie sattsehen. Jack blickte zu den Schildern hoch. Da gab es einen Fuchs, eine Krone und daneben eine weiße Lilie. Ein Stück weiter, genau gegenüber dem Eingang der Kirche, hing tatsächlich ein rechteckiges Brett, auf dem ein schwarzer Schwan auf weißem Grund abgebildet war. Jack ging schneller.

Nur einen Augenblick später stand er vor John Draytons Buchladen. Doch der Verkaufstisch unter dem Zeichen zum schwarzen Schwan war hochgeklappt, die Tür verriegelt. Jemand hatte ein Schild daran befestigt. Jack sah sich um. Am Verkaufstisch nebenan stand ein feiner Herr, der ein Buch durchblätterte. Hinter dem Tresen hockte ein Lehrling auf einem Hocker, der gelangweilt an seinen Fingernägeln kaute.

»’tschuldigung«, sprach Jack den Jungen an, der nur wenig älter als er selbst war. »Wo ist Master Drayton?«

Der Lehrling deutete gelangweilt auf das Schild, das am Fensterladen hing. »Kannst du nicht lesen?«

Jack schüttelte verlegen den Kopf.

»Der hat heute seinen Laden dichtgemacht, um zum Jahrmarkt zu gehen.« Der Lehrling fuhr fort, an den Nägeln zu kauen.

Jack überlegte. Vielleicht hatte der Lehrling ja gesehen, was sich an dem Tag, als Guy geschnappt wurde und Ned verschwand, zugetragen hatte. Doch als er ihn fragte, zuckte er nur teilnahmslos mit den Achseln.

»Keine Ahnung.« Inzwischen hatte sich der feine Herr entschlossen, das Buch zu kaufen, und der Lehrling wandte sich seinem Kunden zu. Jack blickte nochmals zurück zum Laden, dann schritt er enttäuscht auf den Ausgang des Kirchhofs zu. Er musste seine Ermittlungen auf einen anderen Tag verschieben und wiederkommen, wenn der Buchhändler zurück war. Die anderen Händler zu befragen, hatte sicher wenig Sinn. In Gedanken versunken trat Jack durch den Rundbogen auf die Straße hinaus, als er eine bekannte Stimme hörte.

»Tag, Junge. Sag bloß, der Tabak ist der gnädigen Frau schon wieder ausgegangen?«

Gleich neben dem Eingang zum Kirchhof befand sich ein Tabakladen. Vor der Ladentür hatte man wie immer die geschnitzte Figur eines Wilden aus der Neuen Welt aufgestellt, um zu zeigen, dass das Geschäft geöffnet war. Es roch würzig nach Pfeifenrauch. Master Smyth, der Tabakhändler, wartete in der Tür auf Kundschaft, eine Tonpfeife im Mundwinkel. Jack war erst vergangene Woche hier gewesen.

»Guten Tag, Master Smyth«, begrüßte er den Mann. »Nein, soweit ich weiß, hat sie noch genug.«

Da kam Jack ein Gedanke. Der Kirchhof mit dem Buchladen lag nur wenige Schritte entfernt. Vielleicht war Ned hier vorbeigelaufen und Master Smyth hatte ihn gesehen. Immerhin war er zusammen mit Ned regelmäßig zum Tabakladen gekommen, um Moll neuen Proviant zu besorgen. Unter Umständen war der Tabakhändler seinem Bruder sogar seitdem anderswo in der Stadt begegnet. Der Tabakladen bei St. Pauls war nicht seine einzige Filiale. Seit England in der Neuen Welt Kolonien hatte, war es in London Mode geworden, Pfeife zu rauchen, und Jack wusste von Moll, dass der Mann deswegen ständig weitere Zweigstellen eröffnete.