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»Al w...weint«, stotterte das Monster.

Inzwischen hatte sich der wilde Mann neben Alyss gekniet und nach ihrem Knöchel gegriffen. Eigentlich wollte sie auf keinen Fall, dass der Menschenfresser sie berührte, doch er hatte ihren Fuß bereits mit beiden Händen umfasst. Prüfte er etwa, wie zart ihr Fleisch war? Der Wilde tastete ihren Knöchel behutsam ab.

»Ich muss weg von hier.« Alyss wischte sich mit dem Hemdärmel die Tränen weg und wollte aufstehen. Doch der Mann hielt immer noch ihren Fuß.

»Keine Angst«, meinte er. »Dein Knochen ist nicht gebrochen. Nur verstaucht. Ich habe eine Salbe gegen die Schwellung und eine Medizin gegen den Schmerz.« Er stand auf und griff in eine mit Muscheln bestickte Ledertasche, die an einem Haken an der Wand hing, und zog einen kleinen Napf hervor. Kurz darauf rieb er eine braune Salbe in Alyss’ verletzten Knöchel. Danach streute er Pulver in einen Becher mit Wasser und reichte ihn dem Mädchen.

»Trink«, befahl er ihr. »Dann fühlst du dich bald besser.«

Alyss leerte den Becher gehorsam. Die Flüssigkeit tat ihrem ausgetrockneten Hals gut. Dann kamen ihr plötzlich Zweifel. Wie konnte sie so einfältig sein und den Becher einfach leer trinken? Doch es war zu spät. Sie hatte ihn bis auf den letzten Tropfen geleert. Aurelia, die währenddessen aus einer Truhe einen Stoffstreifen hervorgezaubert hatte, begann gleich danach, das Bein des Mädchens bis zur Wade fest zu umwickeln. Die Fee war Alyss sympathisch.

»Bist du wirklich eine Feenprinzessin?«, fragte sie die kleine Frau, die gerade das Ende des Verbands zwischen die Zähne nahm, es zu zwei Zipfeln zerriss und damit den Verband verknotete.

Aurelia lachte hell. »Die Flügel sind nur angenäht«, erklärte sie. »Sassa ist der einzige von uns, der aristokratisch ist. Er ist sogar mit einer richtigen Prinzessin verwandt und wurde von König James persönlich empfangen. Stell dir das mal vor! Ich selber komme nur aus einem Dorf in Yorkshire. Meine Eltern haben mich an einen Wanderzirkus verkauft. Sie dachten wohl, dass ich auf dem Hof nur im Weg bin und nicht richtig mitanpacken kann. Irgendwann bin ich dann bei Master Tubney gelandet. Egal, mir macht’s Spaß, mit dem Jahrmarkt durchs Land zu ziehen. Da wird’s einem nie langweilig.« Zufrieden musterte sie den Verband. »Laufen kannst du wohl zunächst nicht damit.«

»Aber das geht nicht«, erwiderte Alyss bestimmt. Auch wenn der Salamander weg war, musste sie noch heute zu Sir Christopher. Sie stand auf, um zum Ausgang zu humpeln, doch der Schmerz war unerträglich. Resigniert ließ sie sich wieder aufs Stroh fallen.

»Du kannst erst mal hier bei uns bleiben«, bot Aurelia ihr an. Aber der Riese wiegte seinen massigen Schädel besorgt hin und her.

»Tu...Tubney«, wandte er ein.

»Ach was, Hector, der Alte braucht gar nichts davon zu erfahren«, erwiderte die falsche Fee. »Der kommt doch nur ganz selten hier rein. Er und seine Frau schlafen im Wagen neben der Bude«, fügte sie für Alyss erklärend hinzu.

Alyss überlegte. Sie fühlte sich mit einem Mal unglaublich erschöpft, obwohl sie doch die ganze Nacht geschlafen hatte. Zudem war ihr plötzlich schwindlig. Solange Onkel Humphrey nicht wusste, wo sie war, konnte ihr der Häscher nichts antun. Mit dem verletzten Fuß würde sie ohnehin nicht weit kommen. Doch dann blieb ihr Blick an dem Wilden hängen. Auch wenn er ihren Knöchel behutsam versorgt hatte, konnte sie ihm wirklich trauen?

»Von was ernährt sich denn der Eingeborene?«, fragte sie unvermittelt. Sie musste wieder an den Ruf des Marktschreiers denken, der verkündet hatte, dass das Lieblingsgericht des Wilden zartes Menschenfleisch sei.

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass Sassa ein Menschenfresser ist?« Die Fee kicherte leise. »Das sagt Master Tubney doch nur, um Kundschaft anzulocken.«

»Mein Lieblingsessen ist Fisch«, mischte sich der Wilde ein. Er lächelte und sah plötzlich gar nicht mehr so wild aus.

Alyss musterte ihn genauer. Irgendwie kam ihr der Mann fremd, doch gleichzeitig vertraut vor. War es möglich, dass er ihr schon zuvor begegnet war? Ihr Vater hatte ihr oft Geschichten von der Neuen Welt erzählt, und zu Hause, in der Bibliothek in Hatton Hall, gab es ein Buch mit Bildern von Eingeborenen. Die Wilden, die dort abgebildet waren, sahen genau wie dieser Sassa aus. Ihre Schädel waren bis auf einen Streifen in der Mitte kahl geschoren, ihre Körper waren bemalt und sie trugen Federschmuck. Vater hatte immer freundlich von den Einheimischen der Neuen Welt gesprochen. Menschenfresser hatte er nie erwähnt. Plötzlich kam ihr eine Idee. Wenn Sassa aus der Neuen Welt kam und sich hier in London aufhielt, konnte es sich bei der Prinzessin, mit der er verwandt war, sicher nur um eine Prinzessin handeln: Lady Rebecca Rolfe, die indianische Prinzessin aus Virginia, die Alyss zusammen mit ihrem Vater vor zwei Jahren in London besucht hatte. Ralph Sinclair hatte die junge Frau in Jamestown kennengelernt und wollte ihr seine Tochter vorstellen. Der Häuptlingstochter zu Ehren wurde damals am Hof des Königs ein großes Fest veranstaltet, zu dem auch der Vater eingeladen worden war. Alyss durfte ihn begleiten. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Wenn der Wilde mit der Häuptlingstochter verwandt war, kannte er vielleicht auch ihren Vater.

»Bist du mit Lady Rebecca Rolfe verwandt?«, fragte sie ihn hoffnungsvoll.

Der Wilde blickte sie erstaunt an. »Wie hast du das erraten? Lady Rebecca, Pocahontas, Matoaka. Die Prinzessin der Powhatan hatte viele Namen.« Seine Augen begannen zu leuchten. »Alle liebten sie.«

»Kennst du Ralph Sinclair?«, unterbrach ihn Alyss. Doch der Indianer hatte den Namen ihres Vaters noch nie gehört.

»Und wie bist du hierhergekommen? Hast du Lady Rebecca begleitet?« Obwohl sie enttäuscht war, wollte sie jetzt so viel wie möglich über den Indianer erfahren. Irgendwie fühlte sie sich dadurch ihrem Vater nah.

Es stellte sich heraus, dass Sassa der Vetter der Prinzessin war. Als sie damals mit ihrem Mann John Rolfe nach England gesegelt war, wurde eine Gruppe vom Stamm der Powhatan ausgewählt, die die Häuptlingstochter ins ferne Land begleiten sollte. Männer, Frauen und Kinder. Sassa war einer von ihnen gewesen.

»Aber was machst du hier auf dem Jahrmarkt?«, fragte Alyss. »Wieso bist du nicht in deine Heimat zurückgekehrt?«

»Das ist eine lange Geschichte«, erklärte der Mann leise. Das Leuchten in seinen Augen war erloschen, verdrängt von Traurigkeit.

»Tu...Tubney!«, brummte Hector. Seine Stimme klang dringlich. Er stellte sich vor Alyss und schob sie mit dem rechten Fuß hinter die Truhe, bevor er sich davor aufbaute.

»Was soll das?«, beschwerte sich Alyss, doch dann sah sie, wie Prinzessin Aurelia ihren Finger auf den Mund legte.

Der dicke Mann, der am Vorabend vor der Bude die Vorstellung angekündigt hatte, hatte das Zelt betreten.

»Was trödelt ihr hier herum, ihr Faulpelze!«, rief er schlecht gelaunt. »Die Bühne muss für die nächste Vorstellung hergerichtet werden.« Er klatschte laut in die Hände.

Kurz darauf waren Aurelia, Hector und Sassa Master Tubney in den Nebenraum gefolgt. Die Fee hatte sich, bevor sie mit den anderen verschwand, nochmals lächelnd umgedreht und ihr verschmitzt zugezwinkert. Das Letzte, was Alyss sah, waren ihre durchsichtigen Flügel, die silbern glitzerten. Dann war sie allein und plötzlich kamen wieder die Zweifel.

Wieso war sie so schläfrig, dass sie kaum noch die Augen offen halten konnte? Wieso begann das Zelt um sie zu kreisen? Und was war in dem Getränk gewesen, dass ihr der Indianer verabreicht hatte? Irgendwo erklang lautes Kinderlachen und das ferne Läuten von Glocken, das kurz darauf vom fröhlichen Klang einer Fidel übertönt wurde. Trotz der Medizin spürte Alyss ihren Knöchel schmerzhaft pulsieren, ihre Lider wurden immer schwerer. Unter die Fidelmusik mischte sich der Klang einer Trommel. Dann wurde ihr schwarz vor Augen.