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Kit nickte triumphierend. »Ich hab sogar die genaue Adresse.« Er schlürfte die letzte seiner Austern und leckte sich anschließend die Finger.

»Bist du hin?«

»Na klar. Und stell dir vor, was ich herausgefunden habe: In dem Haus wohnt ein Zauberer.«

»Ein Zauberer?« Jack traute seinen Ohren nicht. »Du willst mich wohl veräppeln.« Langsam reichte es ihm wirklich. Am Morgen die verrückte Frau in Bedlam, die überzeugt gewesen war, dass in London Geister herumzogen, die unschuldige Kinder klauten, und jetzt der Junge hier, der von einem Zauberer sprach.

»Nein, Ehrenwort«, erklärte dieser feierlich, die Hand auf dem Herzen. »So wahr ich hier stehe. Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen. Glaub mir, dort gehen seltsame Dinge vor sich. Außerdem hat die Bäckerstochter von gegenüber bestätigt, dass dort ’n Zauberer wohnt. Ich hab ihr anfangs auch nicht geglaubt. Aber dann bin ich nachts heimlich über die Mauer und hab mich umgesehen. Ich sag euch, was ich dort durchs Fenster gesehen hab, war echt unheimlich.«

Tommy, der Neue, der mit blassem Gesicht bisher nur stumm gelauscht hatte, griff nach Jacks Hand und die kleine Eliza drängte sich dicht an seine andere Seite.

»Es war stockfinster, aber das Fenster war offen und ich konnte den Zauberer hören. Verstand jedoch kein Wort, was er da vor sich hin brabbelte. Auf jeden Fall begann plötzlich so ein rundes Ding vor ihm zu glühen, und dann leuchtete auf einmal der ganze Raum grün und blau. Mannomann! Ihr habt ja keine Ahnung, mit was der Typ seine Bude vollgestopft hat. Da hing nicht nur ’n riesiges Monster mit messerscharfen Zähnen an der Decke, sondern aus der Ecke glotzte mich auch noch ’n klappriges Skelett an. Und auf dem Tisch in der Mitte konnte ich ’nen Käfig sehen. Da drin bewegte sich was.«

»Was war es?« Eliza drückte Jacks Hand. Er konnte spüren, dass sie vor Erregung zitterte. »Waren es die verschwundenen Kinder?«

»Nein. Dazu war der Käfig viel zu klein, aber es wimmelte darin von Ratten. Ich hab sie gerade noch gesehen, bevor das Licht ausging. Danach war es stockdunkel. Nur das Piepsen der Viecher hörte man noch.«

»Und die Kinder?«

»Keine Ahnung, die hab ich nicht gesehen. Allerdings bin ich überzeugt, dass er sie in sein Haus lockt, um sie für seine Experimente zu benutzen. Wetten, dass er sie irgendwo dort versteckt hat.«

»Er hat sie in Ratten verzaubert«, flüsterte Eliza.

»Keine Ahnung. Aber man kann nie wissen.«

»Bist du zur Wache gegangen?«, fragte Jack.

Kit schüttelte den Kopf. »Denkst du vielleicht, ich will in der Klapsmühle landen?«

Vielleicht war Kit tatsächlich reif fürs Irrenhaus. Er konnte doch nicht im Ernst glauben, dass ein Zauberer die verschwundenen Kinder geschnappt hatte. Allerdings wusste Jack, dass viele Menschen an Hexen und Zauberer glaubten. Auf Zauberei stand die Todesstrafe, und erst im vergangenen Herbst hatte man eine Frau als Hexe angeklagt und am Galgenplatz vor den Stadtmauern erhängt.

»Bist du ins Haus rein?«, fragte er Kit.

»Bin doch nicht bekloppt.«

»Und wo ist das Haus?«

Kit deutete mit dem Finger ans andere Ufer. »Es ist eines der Häuser direkt am Fluss, kurz vor Bridewell, genau gegenüber von ’nem Zuckerbäcker.«

Jack blickte über den Fluss. In der Ferne ragte der flache Kirchturm von St. Pauls in den Himmel. Davor, am Ufer, reihten sich Häuser dicht nebeneinander. Die Fenster flimmerten im gleißenden Licht der Mittagssonne. Kit war über die Mauer geklettert. Das konnte er auch. Und wenn er erst einmal über der Mauer war, fand er sicherlich einen Weg ins Haus.

»An deiner Stelle würde ich da lieber nicht rein«, warnte ihn Kit, fast so als hätte er seine Gedanken gelesen. »Viel zu gefährlich.«

Doch Jack hatte sich längst entschlossen. Er würde alles riskieren, um seinen Bruder zu finden.

»Wir gehen jetzt besser zurück zum Jahrmarkt«, erinnerte Maggie die anderen an die Arbeit. »Wenn wir heute Abend nichts nach Hause bringen, wird Moll sauer.«

Kit wischte sich die Hände an der Hose ab und schob seine Mütze auf den langen Haaren zurecht. »Wenn’s in Ordnung ist, komm ich mit euch mit.«

Er verbeugte sich vor Maggie und bot ihr wie ein feiner Herr den Arm. Sie kicherte verlegen, hakte sich jedoch trotzdem ein und spazierte mit ihm die Gasse entlang Richtung Hauptstraße. Eliza und Tommy folgten dem Pärchen. Jack schaute nochmals auf den Fluss. Die Brücke, unter der sein Vater ertrunken war, spiegelte sich im Wasser. Er schuldete es seinen verstorbenen Eltern, dass er nach Ned suchte, selbst wenn er dazu bei einem vermeintlichen Hexenmeister einbrechen musste. Trotzdem hoffte er, dass Kit vor Maggie nur geprotzt hatte und Elizas Theorie mit den verzauberten Kindern nicht stimmte.

»Kommst du nicht mit?«, riss ihn Elizas helle Stimme aus seinen Gedanken. Sie war zurückgekommen, um ihn zu holen. Die Kleine packte ihn fürsorglich an der Hand und zerrte ihn die Gasse entlang.

Als sie die anderen einholten, erklärte Kit Maggie gerade, wie man seiner Meinung nach am besten die Leute auf dem Jahrmarkt bestahl. Maggie war überzeugt, dass es am einfachsten sei, die Zuschauer vor den Buden zu bestehlen, da man mit seiner Beute leicht abhauen konnte. Kit dagegen meinte, es sei viel besser, in die Schaubuden zu einer der Vorführungen zu gehen. Der kleine Tommy, der neben den beiden herlief, schwieg wie immer.

»Aber du musst zahlen, um in die Buden reinzukommen«, wandte Maggie ein.

»Na und«, erwiderte Kit. »Das ist doch ’ne Anlage, die sich lohnt. Die Zuschauer glotzen nur zur Bühne hoch. Alles andere interessiert sie nicht. Außerdem sind die Schuppen so schlecht beleuchtet, dass sie ’nen Dieb gar nicht sehen können. Ich sag’s euch. Da gibt’s einiges zu holen. Der olle Eintrittspreis kann einem da wirklich egal sein. Du sparst sogar noch Geld, wenn du dich zwischen den Vorstellungen unter den Bänken versteckst. Da kannst du gleich mehrere zum Preis von einer sehen. Gestern war ich den ganzen Nachmittag im gleichen Schuppen und bin abends mit vollen Taschen nach Hause gegangen.«

Inzwischen waren sie auf dem Jahrmarkt angelangt. Jack würde mit Tommy losziehen, um den Neuen weiter in der Kunst des Diebstahls zu unterweisen. Gerade wollten sie sich verabschieden, als Maggie auf eine Bude vor ihnen am Straßenrand deutete.

»Dort zeigen sie einen Menschenfresser.« Sie schauderte. »Da würde ich nicht mal für einen Sack voll Gold reingehen.«

Auf einem erhöhten Podium vor einer der Buden stand ein kleiner, dicker Mann, der ganz in Schwarz gekleidet war. Gerade pries er lautstark die nächste Vorstellung an.

»Ein Menschenfresser?«, erwiderte Kit kühn. »Na und. Hat jemand Lust, mit mir zu kommen?«

Eliza und Tommy schüttelten einträchtig ihre Köpfe. Auch Maggie hob abwehrend die Hand.

»Ich komm mit«, erwiderte Jack kurz entschlossen. Eigentlich war ihm das auch nicht besonders geheuer, doch er wollte keinesfalls vor dem anderen Jungen als Feigling dastehen. Er zog einen Penny hervor und stellte sich an der Kasse an. »Worauf wartest du noch?«, forderte er Kit auf.

»Und was ist mit Tommy?«, fragte Maggie. »Ich dachte, du kümmerst dich um den.« Doch Jack hörte sie nicht. Einen Augenblick später traten die beiden Jungen durch den Eingang in die Schaubude.

Der Dieb

Sonntag, 8. September 1619

Alyss hatte keine Ahnung, wie spät es war, als sie im Zelt der Schausteller aufwachte. An einem der Pfosten hatte man eine Lampe aufgehängt, in der eine Kerze flackerte. Das schummrige Licht warf geheimnisvolle Schatten an die Wände. Durch den Spalt in der Zeltplane drangen keine Sonnenstrahlen mehr, sondern nur dunkle Nacht. Hatte sie tatsächlich den ganzen Tag im Jahrmarktszelt verschlafen? Als sie sich aufsetzte, begann alles um sie herum zu kreisen, ihr Schädel brummte. Dann erklang ganz aus der Nähe ein Trommelwirbel, gefolgt von lautem Klatschen, Pfeifen und Bravorufen. Die Vorstellung hatte begonnen.