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Doch der Mann ließ sich nicht überreden. »Ich habe morgen beizeiten einen wichtigen Termin. Trotzdem vielen Dank.« Er wandte sich zur Tür, hielt jedoch kurz inne und drehte sich nochmals zu Humphrey Ratcliff um. »Ich werde in einer Woche wiederkommen, um das Mädchen abzuholen. Bis dahin hast du den goldenen Salamander hoffentlich gefunden, denn ich bin überzeugt, dass Ralph Sinclair ihn hier in Hatton Hall versteckt hat.« Die Kerzen des Leuchters flackerten im Luftzug, als die beiden Männer die Bibliothek verließen.

Der goldene Salamander! In den letzten Minuten hatte Alyss kaum gewagt zu atmen. Vater hatte ihr vor seiner Abreise einen kleinen goldenen Salamander zugesteckt. Es konnte sich unmöglich um das gleiche Schmuckstück handeln. Woher es stammte, wusste Alyss nicht, hatte jedoch immer vermutet, dass er es von einer seiner Reisen mitgebracht hatte. Als die Ratcliffs in Hatton Hall ankamen, hatte sie es mit anderen Erinnerungen unter den Bodendielen in ihrem Zimmer versteckt. Sie hatte schon früh herausgefunden, dass ihre Kostbarkeiten nur dort vor den Jungen sicher waren. Seitdem hatte sie nicht mehr an den Salamander gedacht – bis heute Nachmittag. Jetzt konnte sie es kaum erwarten, zurück in ihr Zimmer zu gehen, um ihn aus seinem Versteck zu holen. Einen Augenblick später schob sie den Hebel hoch und drückte ihren Körper mit ganzer Kraft gegen das schwere Bücherregal.

In der Bibliothek war es jetzt still. Nur die Kerzen flackerten leicht. Onkel Humphrey hatte vergessen, sie zu löschen. Alyss griff nach dem Leuchter und öffnete die Tür. Erst als sie sich versichert hatte, dass der Gang leer war, verließ sie die Bibliothek.

Kurz darauf kniete Alyss neben dem Bett in ihrer Schlafkammer. Um die lose Diele darunter zu spüren, brauchte sie nicht einmal das Licht des Leuchters, den sie auf einer Truhe abgestellt hatte. Sie musste dazu nur ihren Arm strecken und blind nach dem Loch zwischen den Brettern tasten. Mit dem Zeigefinger ließ sich die Diele kinderleicht anheben. Trotzdem schlug ihr Herz bis zum Hals. Was, wenn jemand ihr Versteck unter den Bodendielen entdeckt hatte? Doch dann ertastete sie die kleine Schatulle, auf deren Deckel winzige Blumen aus Perlmutt eingelegt waren. Sie war unversehrt. Lächelnd musterte sie den Inhalt: glatte Kieselsteine und Muscheln vom Meer, bunte Vogelfedern, Glasperlen, eine Holzpuppe, ein paar Münzen. Darunter lag ein Miniaturgemälde ihrer verstorbenen Mutter. Einen Augenblick lang betrachtete Alyss die Frau auf dem Bild, die ihr gleichzeitig fremd und vertraut vorkam, dann legte sie die Miniatur behutsam zur Seite.

Ganz unten in der Kassette fand sie, was sie suchte: ein in grünen Samt eingeschlagenes Päckchen, das sie jetzt auswickelte. Interessiert betrachtete sie den kleinen goldenen Salamander auf ihrer Hand. Die winzigen roten Steine, die auf seinem Rücken eingefasst waren, funkelten im Schein der Kerzen. Allerdings verstand sie nicht, wieso die Männer von einem Schatz sprachen. Das Schmuckstück war nur so groß wie ein Männerdaumen und kaum schwerer als ein Goldring. Natürlich, Gold war kostbar, und Alyss wusste auch, dass Rubine wertvolle Edelsteine waren. Doch die Splitter auf dem Rücken des Reptils waren so winzig, dass es sich dafür gewiss nicht lohnte, einen Garten umzugraben und ein Haus auf den Kopf zu stellen. Sie drehte den Salamander, um sich die Unterseite anzusehen. Dort waren Zeichen eingraviert, die keinen Sinn ergaben.

Dann wurde sie plötzlich von Erinnerungen überflutet.

Als ihr Vater ihr den Salamander geschenkt hatte, hatten den ganzen Tag wilde Winterstürme ums Haus gefegt. Schneeregen peitschte gegen die Fensterscheiben und im Kamin prasselte ein warmes Feuer.

»Sobald das Wetter besser wird«, hatte der Vater gesagt, »wird die Aurora in See stechen.« Zwar mochte es Alyss nie, wenn der Vater sie allein in Hatton Hall zurückließ, doch Ralph Sinclair hatte keine andere Wahl. Immerhin reiste er im Auftrag des Königs, und einem königlichen Befehl musste man widerspruchslos nachkommen. Überdies waren die abenteuerlichen Geschichten von der Neuen Welt, die er seiner Tochter nach seiner Rückkehr von den langen Reisen erzählte, jeden Augenblick des Alleinseins wert. Und in Thomas’ und Beths Gesellschaft, die sich liebevoll um sie kümmerten, während der Vater unterwegs war, fühlte sie sich sehr wohl. Trotzdem hatte sie an jenem Abend ein ungutes Gefühl. Auch der Vater schien etwas zu spüren, denn es war das erste Mal, dass er ihr vor der Abreise ein Abschiedsgeschenk überreichte. Sie erinnerte sich noch genau, dass ein Ast im Feuer laut knisterte und eine helle Flamme aufloderte, als er ihr das Päckchen reichte.

»Ein Glücksbringer«, hatte er augenzwinkernd erklärt, während Alyss das goldene Reptil auspackte und bewunderte. »Der Salamander wird dich vor Gefahr beschützen.«

»Aber wie kann mich ein Schmuckstück beschützen?«, hatte Alyss damals ihren Vater gefragt.

»Es ist ein Amulett«, hatte er ihr erklärt. »Viele Menschen sind überzeugt, dass Amulette Glück bringen und Gefahren abwehren. Deine Mutter glaubte fest daran. Er eignet sich aber auch hervorragend als Erkennungszeichen«, fuhr der Vater fort. »Falls ihr aus irgendeinem Grund hier in Hatton Hall Hilfe braucht, dann könntest du Thomas damit nach London schicken. Ich habe mit meinem Freund Sir Christopher ausgemacht, dass er, sobald er den Salamander erhält, mit dir Kontakt aufnimmt, um dir Beistand zu leisten.« Danach drückte er ihr noch ein paar Münzen und einen kleinen Zettel mit Anweisungen in die Hand, wie man im Notfall zum Haus seines Freundes gelangte. »Aber mach dir keine Sorgen. Es wird sicher nichts passieren.«

Am nächsten Tag reiste Ralph Sinclair mit einer vollbeladenen Kutsche nach London, um von dort aus mit der Aurora in die Neue Welt zu segeln. Und seitdem hatte Alyss ihn nicht mehr gesehen.

Als dann die Schreckensnachricht eintraf, dass sein Schiff auf dem Ozean vermisst wurde, war sie zunächst wie betäubt gewesen. Selbst als der Staat Onkel Humphrey als Vormund ernannt hatte, hatte sie nicht mehr an den Salamander gedacht. Außerdem, was hätte Sir Christopher schon ausrichten können? Um ihren geliebten Vater zurückzubringen, hätte es mehr gebraucht als ein kleines goldenes Amulett. Und so geschah es, dass der Salamander unter den Dielenbrettern in Vergessenheit geriet. Bis jetzt! Eine Notsituation war eingetreten. Der Salamander musste so schnell wie möglich zu Sir Christopher nach London gebracht werden, damit der Freund des Vaters erfuhr, dass sie in Not war. Nur wer sollte das tun? Thomas war nicht mehr auf Hatton Hall. Alyss blieb nichts anderes übrig, als den Salamander persönlich nach London zu bringen. Endlich wusste sie, was zu tun war.

Alyss blickte den Salamander, der immer noch auf ihrer offenen Handfläche lag, ein letztes Mal an. Für einen kurzen Augenblick meinte sie, dass ihr die roten Rubinaugen zublinzelten, doch es war sicher nur eine Täuschung des Lichts. Dann strich sie sacht über die Rubinsplitter auf seinem Rücken, wickelte ihn in das Samtstück und steckte ihn zusammen mit den Münzen in einen Lederbeutel.

Plötzlich flackerten die Kerzen, die Tür wurde aufgestoßen. Onkel Humphrey war ohne anzuklopfen in ihr Zimmer getreten. Alyss gelang es gerade noch rechtzeitig, das Säckchen mit dem Salamander unter ihr Mieder zu stopfen.

»Hat dein Vater dir je ein Schmuckstück gegeben?«

»Ein Schmuckstück? Wieso?«, fragte Alyss. »Ich habe keinen Schmuck.«

»Und was ist das?« Der Onkel deutete misstrauisch auf die Schatulle, die noch immer offen auf dem Boden lag. Er bückte sich und leerte den Inhalt aus. Als Alyss ihre verstreuten Schätze sah, hätte sie am liebsten vor lauter Wut gebrüllt.

Der Onkel durchwühlte ihre Kostbarkeiten. Zornig kickte er schließlich die Schatulle unters Bett und verließ das Zimmer. »Wehe dir, wenn du mich anlügst!«, sagte er noch zu Alyss. Den Zettel, auf dem die Adresse von Sir Christopher stand, hatte er zum Glück nicht bemerkt.