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»Welchen Trick sollen wir Tommy zuerst zeigen?«, fragte Eliza, während sie vergnügt neben den beiden Jungen herhüpfte. Doch Jack gab keine Antwort. Er hatte im Getümmel einen roten Haarschopf entdeckt.

»Ned!« Wie war das möglich? Nur ein Stück die Straße entlang lief sein Bruder, so als sei nichts geschehen. Seine feuerroten Haare glühten in der Morgensonne. Munter unterhielt er sich mit einem fremden Mann, der ihn an der Hand hielt. »Ned! Bleib stehen!« Doch Ned reagierte nicht.

»Pass gefälligst auf, wo du hingehst!« Jack war um ein Haar mit einem eleganten Herrn mit Spitzenkragen und Federhut zusammengestoßen.

»Verzeihung«, rief er im Laufen. Nur noch ein paar Schritte, und er hatte seinen Bruder eingeholt. Was war nur los mit ihm? War er plötzlich taub?

»Ned!« Er packte ihn an der Schulter.

»He, was soll das!«

Erschrocken ließ Jack den Jungen los. Zwar hatte er ebenso rote Haare wie Ned und war genauso groß, doch ansonsten glich er ihm nicht.

»Ich dachte, du bist ...«, begann Jack, als eine Faust auf ihn zukam. Nur im letzten Augenblick konnte er ausweichen.

»Ich kenne eure Tricks!« Der Begleiter des fremden Jungen, vermutlich sein Vater, holte schon wieder wütend mit der geballten Faust aus. »Tut freundlich, als würdet ihr uns kennen. Doch alles nur, um uns abzulenken. Und kaum versieht man sich, habt ihr unsere Taschen geleert. Aber ich habe euch Beutelschneider durchschaut. Verschwinde auf der Stelle oder ich rufe die Wache.«

Jack wandte sich enttäuscht ab. Sah er jetzt schon Gespenster? Er sollte sich besser um Eliza und Tommy kümmern und mit der Arbeit beginnen. Der Neue stand am Straßenrand. Doch Eliza war nirgendwo zu sehen.

»Wo ist Eliza?«

Tommy zuckte mit den Achseln. Von der Brücke strömten Männer, Frauen und Kinder Richtung Jahrmarkt. Eliza blieb spurlos verschwunden.

Ankunft in London

Samstag, 7. September 1619

Es dämmerte bereits, als Alyss am südlichen Stadtrand von London ankam. Obwohl sie eine Weile auf dem Karren eines Händlers mitgefahren war, hatte die Reise ewig gedauert. In ihrer Erinnerung war die Strecke viel kürzer gewesen. Aber damals, als sie vor drei Jahren mit ihrem Vater nach London gekommen war, um die indianische Prinzessin zu besuchen, hatten sie die ganze Strecke per Kutsche zurückgelegt. Staubig, erschöpft und müde, wäre sie jetzt am liebsten auf der Stelle eingeschlafen, doch so kurz vor dem Ziel durfte sie nicht aufgeben. Inzwischen erstreckten sich am Straßenrand keine Felder und Wiesen mehr, sondern Häuser, die dichter und dichter zusammenrückten. Wenn sie von hier immer geradeaus weiterging, würde sie bald die Brücke erreichen, die über die Themse in die Stadt führte. Sir Christophers Haus lag irgendwo auf der anderen Seite. Zwar hatte sie Vaters Zettel mit den genauen Anweisungen in Hatton Hall wieder unter den Dielenbrettern versteckt, doch sie erinnerte sich an jedes Wort. Sie musste gleich nach der Brücke links abbiegen und eine breite Straße entlanggehen, an einer Werft vorbei, bis zum Laden eines Zuckerbäckers. Ein großes Steinhaus mit Türmchen auf der anderen Straßenseite, neben dem Flussufer, war sicher nicht zu verfehlen. Wenn sie erst einmal die Brücke überquert hatte, konnte es nicht mehr weit sein.

Alyss ließ sich vom Strom der Menschen in Richtung Stadt treiben. Heute herrschte besonders reger Betrieb. Zwar wusste sie, dass in London immer mehr los war als auf dem Land, wo die Stille um Hatton Hall nur zur Erntezeit unterbrochen wurde, doch so viele Menschen auf einmal hatte sie selbst in der Stadt noch nie gesehen. Gut gelaunt schienen sie alle dasselbe Ziel zu haben. Man konnte fröhliches Kinderlachen hören, Männer und Frauen, die sich angeregt unterhielten. Aus der Ferne wehten das beschwingte Trillern einer Fidel, Gesang und Trommelschläge herüber. Die Musik wurde immer lauter, das Gedränge immer dichter.

»Hallo Junge!«, lallte ein junger Mann, der schwankend aus der anderen Richtung kam. Er roch nach Bier. »Warum so ernst? Heute sollte jedermann guter Dinge sein.« Dann zog er singend weiter.

Was ging hier vor? Auf der breiten Straße, auf der gewöhnlich Reiter, Kutschen und Karren in die Stadt reisten, hatte man ein ganzes Dorf aus Buden und Zelten aufgebaut. Ein Stück weiter versperrte eine Gruppe von Leuten fast den ganzen Weg. Sie schauten gebannt nach oben. Alyss folgte ihren Blicken. Da hatte doch glatt jemand ein Seil über die Straße, zwischen zwei gegenüberliegenden Häusern gespannt. Ein Gaukler, der einen bunten Harlekinanzug trug, setzte einen Fuß nach dem anderen auf das Seil und tanzte mit zierlichen Schritten quer über die Straße, als sei nichts einfacher, als auf einem Seil durch die Luft zu spazieren. Auf seinem Kopf balancierte er zusätzlich einen silbernen Leuchter, in dem mehrere Kerzen flackerten. Plötzlich sprang er hoch und machte einen Salto in der Luft. Dann landete er wieder auf dem Seil, das nun leicht bebte. Den Leuchter hatte er mit der Hand aufgefangen. Trotz der Musik, die dicht daneben ertönte, meinte Alyss das erleichterte Aufatmen der Zuschauer zu hören.

»Wisst Ihr, was hier los ist?«, fragte sie eine Frau, die ebenfalls den Seiltänzer bestaunte. Auf dem Arm trug sie ein kleines Mädchen, das zufrieden an einem Pfefferkuchen knabberte. Verwundert blickte die Frau Alyss an.

»Du bist wohl nicht von hier«, stellte sie fest.

Alyss schüttelte den Kopf. »Nein, Madam.«

»Na, der Jahrmarkt hat heute angefangen«, erklärte die Frau freundlich, »das will keiner versäumen.« Sie nickte Alyss lächelnd zu und blickte wieder zum Akrobaten hoch, der seinen Leuchter einem Gehilfen überreicht hatte und jetzt einen Schubkarren über das Seil schob.

Alyss drängte sich weiter durchs Getümmel. Für eine Weile vergaß sie, wie erschöpft sie war und dass sie eigentlich auf die andere Seite des Flusses wollte. Es gab so viel zu sehen.

»Hereinspaziert!«, rief eine Frau dicht neben ihr. Sie stand auf einer hölzernen Plattform, die neben einer Bude errichtet worden war. »Besichtigen Sie Leonora, das Affenweib! Sie ist am ganzen Körper behaart!«

»Treten Sie ein, meine Herrschaften!«, versuchte ein Mann in der Nachbarbude die Frau zu übertönen. »Versäumen Sie nicht die Sensation des Jahrhunderts. Kleopatra, das Krokodilmädchen aus dem Land der Pharaonen. Halb Weib, halb Krokodil!«

Auf der gegenüberliegenden Seite war ein Stand aufgebaut, auf dessen Rückwand ein Löwe aufgemalt war. Sein Maul war weit aufgerissen, und die Kunden mussten versuchen, Bälle in das dunkle Loch zu zielen.

»Drei Würfe nur einen Penny«, warb eine dicke Frau hinter der Theke um Kundschaft.

»Wetten, dass ich das mühelos schaffe«, hörte Alyss einen Mann prahlen. Er trug Perlenohrringe, feine Seidenhosen und ein Wams aus besticktem Brokat. Er legte seinen Arm um die Hüften einer jungen Frau, die verlegen kicherte, und schob sie zur Wurfbude.

Alyss wusste nicht, wohin sie zuerst blicken sollte. Staunend ging sie weiter, als ihr der Geruch von gebratenem Fleisch in die Nase stieg. Ihr knurrender Magen erinnerte sie daran, dass sie seit dem Vorabend nichts mehr gegessen hatte. Eigentlich sprach nichts dagegen, sich zuerst hier zu stärken, bevor sie Sir Christopher auf der anderen Flussseite aufsuchte.

»Gott grüße dich, junger Herr!« Es dauerte einen Augenblick, bis Alyss merkte, dass jemand mir ihr sprach.

Eine Frau mit rotem Rock und einem bunt bestickten Schultertuch hatte sich ihr in den Weg gestellt.

»Deine Zukunft ist in deine Hand geschrieben. Zeig sie mir, und ich wahrsage dir, was in den Sternen steht.« Die langen, baumelnden Ohrringe der Frau glitzerten.