»Gefällt es dir?« fragte er angelegentlich. »Wirst du dich dort wohlfühlen können?«
»Warum nicht?« sagte Knecht gelassen. »Aber wo bleibt wohl Tito? Es ist schon eine gute Weile her, seit du nach ihm geschickt hast.«
Sie sprachen noch ein wenig hin und her, dann hörte man Schritte draußen, die Tür ging auf, und es kam jemand herein, doch war es weder Tito noch die nach ihm ausgesandte Magd. Es war Titos Mutter, Frau Designori. Knecht erhob sich zur Begrüßung, sie streckte ihm die Hand entgegen und lächelte ihn mit einer etwas mühsamen Freundlichkeit an, während er sah, daß unter diesem höflichen Lächeln ein Ausdruck von Sorge oder Ärger lag. Sie hatte kaum ein paar Worte des Willkommens hervorgebracht, als sie sich ihrem Mann zuwandte und sich ungestüm der Mitteilung entledigte, welche ihr auf der Seele lag.
»Es ist wirklich peinlich,« rief sie, »denke dir, der Junge ist verschwunden und nirgends zu finden.«
»Nun, er wird ausgegangen sein,« beruhigte Plinio. »Er wird schon kommen.«
»Leider ist das nicht wahrscheinlich,« sagte die Mutter, »er ist nämlich schon seit heut morgen fort. Ich habe es schon in der Frühe bemerkt.«
»Und warum erfahre ich es erst jetzt?«
»Weil ich natürlich mit jeder Stunde seine Rückkehr erwartete und weil ich dich nicht unnütz aufregen wollte. Anfangs dachte ich ja auch gar nicht an etwas Schlimmes, ich dachte, er sei spazierengegangen. Erst als er mittags ausblieb, begann ich mir Sorge zu machen. Du warst heut zu Tische nicht da, sonst hättest du es mittags erfahren. Auch da noch wollte ich mir einreden, es sei nur eine Nachlässigkeit von ihm, mich so lang warten zu lassen. Aber das war es also nicht.«
»Erlauben Sie mir eine Frage,« sagte Knecht. »Der junge Mann hat doch von meiner baldigen Ankunft und von Ihren Absichten mit ihm und mir gewußt?«
»Selbstverständlich, Herr Magister, und er schien mit diesen Absichten sogar nahezu zufrieden, zumindest war es ihm lieber, Sie zum Lehrer zu bekommen, als nochmals auf irgendeine Schule geschickt zu werden.«
»Nun,« meinte Knecht, »dann ist ja alles gut. Ihr Sohn, Signora, ist an sehr viel Freiheit gewöhnt, besonders in letzter Zeit, da ist ihm die Aussicht auf einen Erzieher und Zuchtmeister begreiflicherweise eher fatal. Und so hat er sich im Augenblick, ehe er dem neuen Lehrer übergeben werden sollte, davongemacht, vielleicht weniger in der Hoffnung, seinem Schicksal wirklich zu entlaufen, als in der Meinung, bei einem Aufschub könne er nichts verlieren. Und außerdem wollte er vermutlich seinen Eltern und dem von ihnen bestellten Schulmeister einen Puff geben und seinen Trotz gegen die ganze Welt der Erwachsenen und Lehrer zum Ausdruck bringen.«
Designori war es lieb, daß Knecht den Vorfall so wenig tragisch nahm. Er selbst aber war voll Sorge und Beunruhigung, seinem liebenden Herzen schien jede Gefährdung des Sohnes möglich. Vielleicht, dachte er, war er allen Ernstes entflohen, vielleicht dachte er sogar daran, sich ein Leid anzutun? Ach, alles, was in der Erziehung dieses Knaben versäumt und falsch gemacht worden war, schien sich jetzt rächen zu sollen, grade im Augenblick, wo man es gutzumachen hoffte.
Gegen Knechts Rat bestand er darauf, daß etwas geschehe, etwas getan werde; er fühlte sich unfähig, den Schlag leidend und untätig hinzunehmen, und steigerte sich in eine Ungeduld und nervöse Aufgeregtheit hinein, die seinem Freunde höchlich mißfiel. So beschloß man denn, Botschaften in einige Häuser zu senden, in welchen Tito zuweilen bei Altersgenossen verkehrte. Knecht war froh, als Frau Designori gegangen war, um dies anzuordnen, und er den Freund für sich allein hatte.
»Plinio,« sagte er, »du machst ein Gesicht, als hätte man dir deinen Sohn tot ins Haus getragen. Er ist kein kleines Kind mehr und wird weder unter einen Wagen geraten sein noch Tollkirschen gegessen haben. Also fasse dich, Lieber. Da das Söhnchen nicht da ist, erlaube mir, für einen Augenblick an seiner Stelle dich in die Schule zu nehmen. Ich habe dich ein wenig beobachtet und finde, daß du nicht eben gut in Form bist. In dem Augenblick, in dem ein Athlet einen unerwarteten Schlag oder Druck erleidet, macht seine Muskulatur wie von selbst die nötigen Bewegungen, dehnt oder duckt sich und hilft ihm, der Lage Herr zu werden. So hättest du, Schüler Plinio, im Augenblick, als du den Schlag empfingst – oder was dir übertriebenerweise wie ein Schlag vorkam –, das erste Abwehrmittel bei seelischen Angriffen anwenden und auf langsame, sorgfältig beherrschte Atmung bedacht sein müssen. Statt dessen hast du geatmet wie ein Schauspieler, der Erschüttertsein darstellen muß. Du bist nicht gut genug gerüstet, ihr Weltleute scheinet dem Leiden und den Sorgen auf eine ganz besondere Art offenzustehen. Es hat etwas Hilfloses und Rührendes und manchmal, nämlich wenn es sich um echte Leiden handelt und das Martyrium Sinn hat, auch etwas Großartiges. Aber für den Alltag ist dieser Verzicht auf Abwehr keine Waffe; ich werde dafür sorgen, daß dein Sohn einmal besser gerüstet sein wird, wenn er es nötig hat. Und jetzt, Plinio, sei so gut und mache ein paar Übungen mit mir, damit ich sehe, ob du wirklich alles schon wieder verlernt hast.«
Mit den Atemübungen, zu denen er streng rhythmische Kommandos gab, lenkte er den Freund heilsam von seiner Selbstquälerei ab, und danach fand er ihn auch willig, auf Vernunftgründe zu hören und den Schreckens- und Sorgenaufwand wieder abzubauen. Sie gingen in Titos Zimmer hinauf; mit Vergnügen betrachtete Knecht das Durcheinander knabenhafter Besitztümer, er griff nach einem auf dem Tischchen beim Bett liegenden Buch, sah ein darein gestecktes Stück Papier hervorragen, und siehe, es war ein Zettel mit einer Botschaft des Verschwundenen. Er reichte das Blatt Designori hin und lachte, und auch dessen Gesicht ward nun wieder hell. Auf dem Zettel teilte Tito seinen Eltern mit, er sei heute in aller Frühe aufgebrochen und reise allein ins Gebirge, wo er in Belpunt auf den neuen Lehrer warte. Man möge ihm, ehe seine Freiheit wieder so lästig beschränkt werde, dieses kleine Vergnügen gönnen, er habe einen unüberwindlichen Widerwillen dagegen, diese schöne kleine Reise in Begleitung des Lehrers, schon als Beaufsichtigter und Gefangener, zu machen.
»Sehr verständlich,« meinte Knecht. »Ich werde ihm also morgen nachreisen und ihn wohl schon in deinem Landhaus finden. Jetzt aber geh vor allem zu deiner Frau und bringe ihr die Nachricht.«
Für den Rest dieses Tages war die Stimmung im Hause heiter und entspannt. An jenem Abend hat Knecht auf Plinios Drängen dem Freund in Kürze die Vorgänge der letzten Tage und namentlich seine beiden Gespräche mit Meister Alexander erzählt. An jenem Abend hat er auch einen wunderlichen Vers auf ein Zettelchen geschrieben, das heute im Besitz Tito Designoris ist. Damit hat es folgende Bewandtnis: