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Während so sein Verhältnis zum Abt und Gastgeber sich ins Lebendigere und Wirksame steigerte, die kollegiale Freundschaft mit dem Organisten gedieh und der kleine geistliche Staat, in dem er lebte, ihm allmählich vertraut wurde, begann auch die Versprechung des Orakels, das er vor der Abreise aus Kastalien befragt hatte, sich der Erfüllung zu nähern. Es war ihm, dem seinen Besitz bei sich tragenden Wanderer, nicht nur die Einkehr in einer Herberge verheißen worden, sondern auch »eines jungen Dieners Beharrlichkeit.« Daß die Verheißung sich zur Erfüllung entfaltete, durfte der Wanderer als ein gutes Zeichen annehmen, als ein Zeichen dafür, daß er wirklich »seinen Besitz bei sich trage,« daß er auch fern von den Schulen, Lehrern, Kameraden, Gönnern und Helfern, fern von der heimatlichen, nährenden und hilfreichen Atmosphäre Kastaliens den Geist und die Kräfte in sich gesammelt trage, mit deren Hilfe er einem tätigen und wertvollen Leben entgegenging. Der angekündigte »junge Diener« nämlich näherte sich ihm in Gestalt eines geistlichen Schülers namens Anton, und wenn dieser junge Mensch auch in Josef Knechts Leben selber keine Rolle gespielt hat, so war er doch damals in jener eigentümlich zwiespältig gestimmten ersten Klosterzeit ein Hinweis, ein Bote zu Neuem und Größerem, ein Ansager kommender Ereignisse. Anton, ein schweigsamer, aber feurig und begabt blickender Jüngling, schon nahezu reif, um in den Kreis der Mönche aufgenommen zu werden, begegnete dem Glasperlenspieler, dessen Herkunft und Kunst ihm so geheimnisvoll war, ziemlich häufig, während im übrigen die kleine Schülerschar in ihrem abgesonderten und für den Gast nicht zugänglichen Flügel ihm nahezu unbekannt blieb und ihm sichtlich ferngehalten wurde. Die Teilnahme am Spielkursus war den Schülern nicht erlaubt. Dieser Anton aber hatte mehrmals in der Woche Dienst als Bibliotheksgehilfe; hier begegnete ihm Knecht, gelegentlich war es auch zu einem Gespräch gekommen, und mehr und mehr bemerkte Knecht, daß dieser junge Mensch mit den dunkelkräftigen Augen unter starken schwarzen Brauen ihm in jener schwärmerischen und dienstbereiten Art von verehrender Jünglings- und Schülerliebe zugetan war, welche ihm nun oft genug schon begegnet war und welche er längst, obwohl er jedesmal Lust fühlte, sich ihr zu entziehen, als ein lebendiges und wichtiges Element im Ordensleben erkannt hatte. Hier im Kloster beschloß er, doppelt zurückhaltend zu sein; es wäre ihm wie ein Verstoß gegen die Gastfreundschaft erschienen, wenn er diesen noch der geistlichen Erziehung unterstehenden Jüngling hätte beeinflussen wollen; auch war ihm ja das strenge Keuschheitsgebot, unter welchem man hier stand, wohlbekannt, und ihm schien, dadurch könnte eine knabenhafte Verliebtheit noch gefährlicher werden. Jedenfalls mußte er jede Möglichkeit eines Anstoßes vermeiden und richtete sich danach.

In der Bibliothek, dem einzigen Ort, an dem er jenem Anton des öftern begegnete, machte er auch die Bekanntschaft eines Mannes, den er anfangs seiner bescheidenen Erscheinung wegen beinahe übersehen hatte, den er dann mit der Zeit genauer kennenlernte und zeitlebens mit einer dankbaren Verehrung geliebt hat wie nur etwa noch den Alt-Musikmeister. Es war der Pater Jakobus, wohl der bedeutendste Geschichtschreiber des Benediktinerordens, damals etwa sechzig Jahre alt, ein hagerer ältlicher Mann mit einem Sperberkopf auf langem sehnigem Halse, mit einem Gesicht, das von vorn, namentlich da er mit seinen Blicken sehr sparsam war, etwas Lebloses und Erloschenes hatte, dessen Profil aber mit der kühn geschwungenen Linie der Stirn, dem tiefen Einschnitt überm Nasenrücken, der scharfgeschnittenen Hakennase und dem etwas kurzen, aber gewinnend rein auslaufenden Kinn eine ausgeprägte und eigenwillige Persönlichkeit anzeigte. Der stille alte Mann, der übrigens dann bei näherem Kennenlernen höchst temperamentvoll sein konnte, hatte einen eigenen, stets mit Büchern, Handschriften und Landkarten bedeckten Studiertisch im kleineren, innern Raum der Bücherei inne und schien in diesem Kloster, das so unschätzbare Bücher besaß, der einzige wirklich ernstlich arbeitende Gelehrte zu sein. Übrigens war es jener Novize Anton, der Josef Knecht unabsichtlich auf den Pater Jakobus aufmerksam machte. Knecht hatte bemerkt, daß jener innere Raum der Bibliothek, wo der Gelehrte seinen Arbeitstisch stehen hatte, beinahe wie ein privates Studierzimmer betrachtet und von den wenigen Benutzern der Bücherei nur im Notfalle und dann nur leise und respektvoll auf Zehenspitzen betreten wurde, obwohl der dort arbeitende Pater gar nicht den Eindruck machte, so leicht störbar zu sein. Natürlich hatte sich Knecht alsbald dieselbe Rücksicht zum Gebot gemacht, und schon dadurch war der arbeitsame Alte seiner Beobachtung entrückt geblieben. Nun hatte dieser eines Tages sich von Anton mit einigen Büchern bedienen lassen, und als Anton aus jenem Innern Raum zurückkehrte, fiel es Knecht auf, daß er eine kleine Weile in der offenen Türe stehenblieb und zu dem an seinem Tische in die Arbeit Versunkenen zurückblickte mit einem schwärmerischen Ausdruck von Bewunderung und Ehrfurcht, gemischt mit jenem Gefühl beinahe zärtlicher Rücksicht und Hilfsbereitschaft, wie sie gutartige Jugend zuweilen der Kahlheit und Gebrechlichkeit des Alters entgegenbringt. Zunächst freute sich Knecht dieses Anblickes, der ja auch an sich schön war, auch zeigte er ihm immerhin, daß es bei Anton eine Schwärmerei für Ältere und Bewunderte auch ohne jede leibliche Verliebtheit gebe. Im nächsten Augenblick kam ihm ein eher ironischer Gedanke, dessen er sich beinahe schämte, der Gedanke: wie spärlich es in diesem Institute hier um die Gelehrsamkeit bestellt sein müsse, wenn der einzige ernstlich tätige Gelehrte des Hauses von der Jugend so wie ein Wundertier und Fabelwesen angestaunt wurde. Immerhin, dieser beinahe zärtliche Blick der bewundernden Verehrung, welchen Anton auf den Alten heftete, öffnete Knecht die Augen für die Erscheinung des gelehrten Paters, und indem er von da an je und je einen Blick auf diesen Mann warf, entdeckte er sein römisches Profil und entdeckte allmählich dies und jenes an Pater Jakobus, das auf einen nicht gewöhnlichen Geist und Charakter hinzudeuten schien. Daß er Historiker sei und für den eingeweihtesten Kenner der Geschichte der Benediktiner gelte, war ihm schon bekannt.

Eines Tages sprach der Pater ihn an; er hatte nichts von dem breiten, betont wohlwollenden, betont gutgelaunten und etwas onkelhaften Tonfall, der zum Stil des Hauses zu gehören schien. Er lud Josef ein, ihn nach der Vesper in seinem Zimmer zu besuchen. »Sie finden in mir,« sagte er mit einer leisen und beinahe scheuen Stimme, aber wundervoll genau akzentuierend, »zwar keinen Kenner der Geschichte Kastaliens und noch weniger einen Glasperlenspieler, aber da nun, wie es scheint, unsre beiden so verschiedenen Orden sich mehr und mehr befreunden, möchte ich mich davon nicht ausschließen und möchte auch meinerseits aus Ihrer Anwesenheit je und je ein wenig Gewinn ziehen.« Er sprach mit vollkommenem Ernst, aber die leise Stimme und das alte kluge Gesicht gaben seinen überhöflichen Worten jene wunderbar zwischen Ernst und Ironie, Devotion und leisem Spott, Pathos und Spielerei schillernde Vieldeutigkeit, wie man sie etwa beim Höflichkeits- und Geduldspiel endloser Verneigungen bei der Begrüßung zwischen zwei Heiligen oder zwei Kirchenfürsten empfinden mag. Diese ihm von den Chinesen her so wohlbekannte Mischung aus Überlegenheit und Spott, aus Weisheit und eigensinnigem Zeremoniell war für Josef Knecht ein Labsal; es kam ihm zum Bewußtsein, daß er diesen Ton – auch der Glasperlenspielmeister Thomas beherrschte ihn meisterlich – seit geraumer Zeit nicht mehr vernommen habe; erfreut und dankbar nahm er die Einladung an. Als er am Abend des Paters abgelegene Wohnung am Ende eines stillen Seitenflügels aufsuchte und sich besann, an welche Tür er zu klopfen habe, hörte er zu seiner Überraschung Klaviermusik. Er horchte, es war eine Sonate von Purcell, anspruchlos und ohne Virtuosität, aber taktfest und sauber gespielt; innig und freundlich klang die reine, innig heitere Musik mit ihren süßen Dreiklängen zu ihm heraus und gemahnte ihn der Zeit in Waldzell, da er Stücke dieser Art mit seinem Freund Ferromonte auf verschiedenen Instrumenten geübt hatte. Er wartete genußvoll lauschend das Ende der Sonate ab, es tönte in dem stillen, dämmrigen Korridor so einsam und weltfern, und so tapfer und unschuldig, so kindlich und überlegen zugleich wie jede gute Musik inmitten der unerlösten Stummheit der Welt. Er pochte an die Tür, Pater Jakobus rief »Herein!« und empfing ihn mit seiner bescheidenen Würde, am kleinen Klavier brannten noch zwei Kerzen. Ja, sagte Pater Jakobus auf Knechts Frage, er spiele jeden Abend eine halbe oder auch eine ganze Stunde, er beende sein Tagewerk mit dem Einbruch der Dunkelheit und verzichte in den Stunden vor dem Schlafengehen auf Lesen und Schreiben. Sie sprachen von Musik, von Purcell, von Händel, von der uralten Musikpflege bei den Benediktinern, dem recht eigentlich musischen Orden, dessen Geschichte kennenzulernen Knecht Begierde zeigte. Das Gespräch wurde lebhaft und streifte hundert Fragen, die geschichtlichen Kenntnisse des Alten schienen wahrhaft wunderbar zu sein, doch leugnete er nicht, daß die Geschichte Kastaliens, des kastalischen Gedankens und des dortigen Ordens ihn wenig beschäftigt und interessiert habe, machte auch kein Hehl aus seiner kritischen Stellung zu diesem Kastalien, dessen »Orden« er als eine Nachahmung der christlichen Kongregationen betrachtete, und zwar im Grunde als eine blasphemische Nachahmung, da ja der kastalische Orden keine Religion, keinen Gott und keine Kirche zum Fundament habe. Knecht blieb bei dieser Kritik respektvoll Zuhörer, gab immerhin zu bedenken, daß über Religion, Gott und Kirche außer den benediktinischen und römisch-katholischen Auffassungen noch andre möglich seien und existiert hätten, welchen man weder die Reinheit des Wollens und Bestrebens noch einen tiefen Einfluß auf das geistige Leben absprechen könne.