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Wenn nun auch in den Gesprächen zwischen Lehrer und Schüler von der politischen Gegenwart kaum jemals die Rede war – nicht allein die Übung des Paters im Schweigen und Zurückhalten, sondern ebensosehr die Scheu des Jüngeren vor dem Hineingezogenwerden ins Diplomatische und Politische verhinderte das – so hatte doch die politische Stellung und Tätigkeit des Benediktiners seine Betrachtung der Weltgeschichte so durchdrungen, daß aus jeder seiner Ansichten, aus jedem seiner Blicke ins Gewirre der Welthändel auch der praktische Politiker mitsprach, ein nicht ehrgeiziger, nicht intriganter Politiker allerdings, kein Regent und Führer, auch kein Streber, sondern ein Ratgeber und Vermittler, ein Mann, dessen Aktivität durch Weisheit, dessen Streben durch eine tiefe Einsicht in die Unzulänglichkeit und Schwierigkeit des Menschenwesens gemildert war, dem aber sein Ruhm, seine Erfahrung, seine Kenntnis der Menschen und Zustände und nicht zuletzt seine Selbstlosigkeit und Integrität als Person eine bedeutende Macht gaben. Von alledem hatte Knecht, als er nach Mariafels kam, nichts gewußt, es war ihm nicht einmal der Name des Paters bekannt gewesen. Die Mehrzahl der Bewohner Kastaliens lebte in einer politischen Unschuld und Ahnungslosigkeit, wie sie dem Gelehrtenstande auch in früheren Epochen nicht selten eigen war; aktive politische Rechte und Pflichten besaß man nicht, Zeitungen bekam man kaum zu Gesicht; und wenn dies die Haltung und Gewohnheit der Durchschnittskastalier war, so war die Scheu vor dem Aktuellen, der Politik, der Zeitung noch größer bei den Glasperlenspielern, die sich gern für die eigentliche Elite und Creme der Provinz hielten und sehr darauf hielten, die dünne sublimierte Atmosphäre ihres gelehrt-artistischen Daseins durch nichts trüben zu lassen. Bei seinem erstmaligen Erscheinen im Kloster war Knecht ja auch nicht als Träger eines diplomatischen Auftrags, sondern lediglich als Lehrer des Glasperlenspiels gekommen, und hatte keine andren Kenntnisse politischer Art als die ihm von Monsieur Dubois in ein paar Wochen beigebrachten. Verglichen mit damals war er heute zwar sehr viel wissender geworden, hatte aber den Widerwillen des Waldzellers gegen die Beschäftigung mit aktueller Politik keineswegs aufgegeben. Wenn er auch in politischer Hinsicht im Umgang mit dem Pater Jakobus vielfach geweckt und erzogen wurde, so geschah das nicht, weil Knecht ein Bedürfnis danach gespürt hätte, so wie er etwa auf die Historie geradezu gierig war, sondern es geschah, weil unvermeidlich, wie beiläufig.

Um sein Rüstzeug zu ergänzen und seiner ehrenvollen Aufgabe, den Pater in seinen Vorträgen de rebus castaliensibus zum Schüler zu haben, eher gewachsen zu sein, hatte Knecht Literatur über die Verfassung und Geschichte der Provinz, über das System der Eliteschulen und die Entwicklungsgeschichte des Glasperlenspiels aus Waldzell mitgebracht. Einige dieser Bücher – er hatte sie seitdem nicht wieder vor Augen gehabt – hatten ihm schon vor zwanzig Jahren bei seinem Kampf mit Plinio Designori gedient; andre, die man ihm damals noch hatte vorenthalten müssen, da sie speziell für die Beamten Kastaliens verfaßt waren, las er erst jetzt. So kam es, daß er zur gleichen Zeit, da seine Studiengebiete sich so erweiterten, die eigene geistige und geschichtliche Basis neu zu betrachten, zu erfassen und zu stärken genötigt war. Bei seinem Versuch, dem Pater das Wesen des Ordens und des kastalischen Systems möglichst einfach und klar vor Augen zu stellen, stieß er, wie es nicht anders sein konnte, alsbald auf den schwächsten Punkt seiner eigenen wie der ganzen kastalischen Bildung; es zeigte sich, daß die weltgeschichtlichen Zustände, welche einst das Entstehen des Ordens und alles, was daraus folgte, ermöglicht und gefordert hatten, ihm selber nur in einem schematisierten und blassen Bilde vorstellbar waren, das der Anschaulichkeit und der Ordnung ermangelte. So kam es, da der Pater ein nichts weniger als passiver Schüler war, zu einer gesteigerten Zusammenarbeit, einem höchst lebendigen Austausch: während er die Geschichte seines kastalischen Ordens vorzutragen versuchte, half ihm Jakobus diese Geschichte in mancher Hinsicht erst richtig sehen und erleben und ihre Wurzeln in der allgemeinen Welt- und Staatengeschichte finden. Wir werden diese intensiven, durch das Temperament des Paters nicht selten bis zur heftigsten Diskussion gesteigerten Auseinandersetzungen noch nach Jahren ihre Frucht tragen und bis zu Knechts Ende lebendig fortwirken sehen. Wie aufmerksam andrerseits der Pater Knechts Ausführungen folgte und wie weit er durch sie Kastalien hat kennen und anerkennen lernen, zeigte sein ganzes späteres Verhalten; das bis heute bestehende, mit wohlwollender Neutralität und gelegentlichem gelehrtem Austausch beginnende und zeitweise bis zur wirklichen Zusammenarbeit und Bundesgenossenschaft gediehene Einvernehmen zwischen Rom und Kastalien ist diesen beiden Männern zu danken. Sogar in die Theorie des Glasperlenspiels – was er anfangs lächelnd von sich gewiesen hatte – begehrte der Pater schließlich eingeführt zu werden, denn er spürte wohl, daß dort das Geheimnis des Ordens und gewissermaßen dessen Glaube oder Religion zu suchen sei, und da er nun einmal willens war, in diese ihm bisher nur vom Hörensagen bekannte und wenig sympathische Welt einzudringen, ging er in seiner ebenso kräftigen wie listigen Art entschlossen aufs Zentrum los, und wenn er auch kein Glasperlenspieler geworden ist – dazu war er ohnehin viel zu alt – so haben doch die Geister des Spiels und des Ordens sich außerhalb Kastaliens kaum jemals einen ernstern und wertvollem Freund gewonnen als den großen Benediktiner.

Je und je gab der Pater, wenn Knecht sich nach einer Arbeitszeit von ihm verabschiedete, ihm zu verstehen, daß er heute abend für ihn zu Hause sei; das waren auf die Anstrengungen der Lektionen und die Spannungen der Diskussionen hin friedliche Stunden, zu welchen Josef häufig sein Klavichord oder auch eine Geige mitbrachte, dann setzte sich der Alte ans Klavier im sanften Licht einer Kerze, deren süßer Wachsduft den kleinen Raum erfüllte gleich der Musik von Corelli, Scarlatti, Telemann oder Bach, die sie abwechselnd oder gemeinsam spielten. Früh ging der alte Herr schlafen, während Knecht, von der kleinen musikalischen Abendandacht gestärkt, seine Arbeitszeit bis zur Grenze des von der Disziplin Erlaubten in die Nacht ausdehnte.

Außer seinem Lernen und Lehren beim Pater nämlich, dem läßlich betriebenen Spielkurs im Kloster und etwa je und je einem chinesischen Colloquium mit dem Abt Gervasius finden wir Knecht zu jener Zeit noch mit einer recht umfangreichen Arbeit beschäftigt; er beteiligte sich, was er die beiden letzten Male unterlassen hatte, an dem jährlichen Wettbewerb der Waldzeller Elite. Bei diesem Wettbewerb mußten auf Grund von drei bis vier vorgeschriebenen Hauptthemen Entwürfe zu Glasperlenspielen ausgearbeitet werden, es wurde Wert auf neue, kühne und originelle Verknüpfungen der Themen bei höchster formaler Sauberkeit und Kalligraphie gelegt, und es waren bei diesem einzigen Anlaß den Konkurrenten auch Überschreitungen des Kanons erlaubt, das heißt, man hatte das Recht, sich auch neuer, in den offiziellen Kodex und Hieroglyphenschatz noch nicht aufgenommener Chiffern zu bedienen. Dadurch wurde dieser Wettbewerb, nächst den öffentlichen großen Weihespielen ohnehin das erregendste Ereignis im Spielerdorf, auch zu einer Konkurrenz der aussichtsreichsten Anwärter auf neue Spielzeichen, und die denkbar höchste, sehr selten verliehene Auszeichnung eines Siegers bei diesem Wettkampf bestand darin, daß nicht nur sein Spiel als das beste Kandidatenspiel des Jahres feierlich zur Aufführung gelangte, sondern daß auch noch der von ihm dargebotene Zuwachs zu Grammatik und Sprachschatz des Spieles anerkannt und in das Spielarchiv und die Spielsprache aufgenommen wurde. Einst war, vor etwa fünfundzwanzig Jahren, der große Thomas von der Trave, der jetzige Magister Ludi, dieser seltenen Ehre gewürdigt worden mit seinen neuen Abbreviaturen für die alchimistische Bedeutung der Tierkreiszeichen, wie denn Magister Thomas auch späterhin viel für die Kenntnis und Einordnung der Alchimie als einer aufschlußreichen Geheimsprache geleistet hat. Knecht nun verzichtete für diesmal auf die Verwendung neuer Spielwerte, deren er wie wohl fast jeder Kandidat manche bereit gehabt hätte, er nahm ferner auch die Gelegenheit nicht wahr, ein Bekenntnis zur psychologischen Spielmethode abzulegen, was ihm eigentlich wohl nahegelegen wäre; er baute ein Spiel von zwar moderner und persönlicher Struktur und Thematik, vor allem aber von einer durchsichtig klaren, klassischen Komposition und streng symmetrischer, nur mäßig ornamentierender, altmeisterlich anmutiger Durchführung auf. Vielleicht war es die Entfernung von Waldzell und dem Spielarchiv, die ihn dazu zwang, vielleicht war es die starke Inanspruchnahme seiner Kraft und seiner Zeit durch die historischen Studien, vielleicht auch leitete ihn mehr oder weniger bewußt der Wunsch, sein Spiel so zu stilisieren, wie es dem Geschmack seines Lehrers und Freundes, des Paters Jakobus, am meisten entsprechen mochte; wir wissen es nicht.