Die Einkleidung wurde vom Sprecher der Ordensleitung und dem obersten Spielarchivar vollzogen, gemeinsam hielten sie den Ornat hoch und legten ihn dem neuen Glasperlenspielmeister über die Schultern. Die kurze Festrede sprach der Magister Grammaticae, der Meister der klassischen Philologie in Keuperheim, ein von der Elite gestellter Vertreter Waldzells übergab die Schlüssel und Siegel, und bei der Orgel sah man den greisen Alt-Musikmeister in eigener Person stehen. Er war zur Investitur herbeigereist, um seinen Schützling einkleiden zu sehen und durch seine unvermutete Anwesenheit froh zu überraschen, vielleicht auch ihm den einen oder andern Rat zu geben. Am liebsten hätte der Alte die Festmusik mit eigenen Händen gespielt, doch durfte er sich eine solche Anstrengung nicht mehr zutrauen, er hatte also das Spielen dem Organisten des Spielerdorfes überlassen, stand aber hinter ihm und wendete ihm die Blätter um. Mit andächtigem Lächeln blickte er auf Josef, sah ihn den Ornat und die Schlüssel empfangen und hörte ihn erst die Eidesformel, dann die freie Anrede an seine künftigen Mitarbeiter, Beamten und Schüler sprechen. Nie war ihm dieser Knabe Josef so lieb und erfreulich gewesen wie heute, wo er schon beinahe aufgehört hatte, Josef zu sein, und begann, nur noch der Träger eines Ornats und Amtes, ein Stein in einer Krone, ein Pfeiler im Bau der Hierarchie zu sein. Er konnte aber seinen Knaben Josef nur wenige Augenblicke allein sprechen. Heiter lächelte er ihm zu und beeilte sich, ihm einzuschärfen: »Sieh, daß du die nächsten drei, vier Wochen gut überstehst, es wird viel von dir verlangt werden. Denke immer ans Ganze, und denke immer daran, daß ein Versäumnis im einzelnen jetzt nicht schwer wiegt. Du mußt dich ganz der Elite widmen, alles andre laß gar nicht in deinen Kopf hinein. Man wird dir zwei Leute schicken, die dir einhelfen sollen; der eine davon, der Yogamann Alexander, ist von mir instruiert, höre gut auf ihn, er versteht seine Sache. Was du brauchst, ist ein felsenfestes Vertrauen darauf, daß die Oberen recht daran taten, dich zu den Ihren zu holen; vertraue auf sie, vertraue auf die Leute, die man dir zur Hilfe schickt, vertraue blind auf deine eigene Kraft. Der Elite aber schenke ein fröhliches, immer waches Mißtrauen, sie erwartet nichts andres. Du wirst gewinnen, Josef, ich weiß es.«
Die meisten magistralen Amtsfunktionen waren für den neuen Magister wohlbekannte und vertraute Tätigkeiten, denen er in dienender oder assistierender Eigenschaft schon sich gewidmet hatte; die wichtigsten waren die Spielkurse, von den Schüler- und Anfänger-, den Ferien- und Gastkursen bis zu den Übungen, Vorlesungen und Seminaren für die Elite. Diesen Tätigkeiten, mit Ausnahme der letzten, konnte jeder neu ernannte Magister sich ohne weiteres gewachsen wissen, während ihm jene neuen Funktionen, welche zu üben er niemals Gelegenheit gehabt hatte, weit mehr Sorge und Mühe machen mußten. Auch Josef ging es so. Am liebsten hätte er vorerst sich mit ungeteiltem Eifer eben diesen neuen Pflichten zugewandt, den eigentlich magistralen, der Mitarbeit im obersten Erziehungsrat, der Zusammenarbeit zwischen Magisterrat und Ordensleitung, der Vertretung des Glasperlenspiels und des Vicus Lusorum in der Gesamtbehörde. Er brannte darauf, sich mit diesen neuen Tätigkeiten vertraut zu machen und ihnen den drohenden Aspekt des Unbekannten zu nehmen, am liebsten hätte er sich vorerst einige Wochen beiseite gesetzt und dem genauesten Studium der Verfassung, der Formalitäten, der Sitzungsprotokolle und so weiter hingegeben. Für Auskunft und Belehrung auf diesem Gebiet stand ihm, das wußte er, außer Herrn Dubois der erfahrenste Kenner und Meister der magistralen Formen und Traditionen zur Verfügung, nämlich der Sprecher der Ordensleitung, welcher zwar selbst nicht Magister war, also eigentlich im Range unter den Meistern stand, der aber in allen Sitzungen der Behörde die Regie führte und der traditionellen Ordnung zu ihrem Recht verhalf gleich dem Oberzeremonienmeister eines Fürstenhofes. Wie gern hätte er diesen klugen, erfahrenen, in seiner glänzenden Höflichkeit undurchsichtigen Mann, dessen Hände ihn eben erst feierlich mit dem Ornat bekleidet hatten, um ein Privatissimum gebeten, hätte jener nur seinen Wohnsitz in Waldzell gehabt statt in dem immerhin eine halbe Tagreise entfernten Hirsland! Wie gern hätte er sich für eine Weile nach Monteport geflüchtet und sich vom Alt-Musikmeister in diese Dinge einführen lassen! Allein daran war nicht zu denken, solche private und studentische Wünsche durfte ein Magister nicht hegen. Vielmehr mußte er sich für die erste Zeit mit intensiver, ausschließlicher Sorgfalt und Hingabe gerade jenen Funktionen widmen, von denen er der Meinung gewesen war, sie würden ihm kaum Mühe machen. Was er während Bertrams Festspiel, wo er einen von der eigenen Gemeinschaft, der Elite, im Stich gelassenen Magister gleichsam im luftleeren Raum hatte kämpfen und ersticken sehen, was er damals geahnt und was die Worte des Alten von Monteport am Tag der Einkleidung bestätigt hatten, das zeigte ihm jetzt jeder Augenblick seines Amtstages und jeder Moment einer Besinnung über seine Lage: er mußte sich vor allem andern der Elite und Repetentenschaft, den obersten Stufen des Studiums, den Seminarübungen und dem ganz persönlichen Umgang mit den Repetenten widmen. Er konnte das Archiv den Archivaren, die Anfängerkurse den vorhandenen Lehrern, die Post den Sekretären überlassen, es würde dabei nicht viel versäumt werden. Die Elite aber durfte er keinen Augenblick sich selbst überlassen, er mußte sich ihr widmen, sich ihr aufdrängen und unentbehrlich machen, sie vom Wert seiner Fähigkeiten, von der Reinheit seines Willens überzeugen, mußte sie erobern, um sie werben, sie gewinnen, sich mit jedem ihrer Kandidaten messen, der dazu Lust zeigte, und es war kein Mangel an solchen Kandidaten. Dabei kam manches ihm zu Hilfe, was er früher als wenig förderlich angesehen hatte, namentlich seine lange Abwesenheit von Waldzell und der Elite, wo er jetzt beinahe wieder ein Homo novus war. Sogar seine Freundschaft mit Tegularius erwies sich als dienlich. Denn Tegularius, der geistreich-kränkliche Outsider, kam offensichtlich für eine streberische Laufbahn so wenig in Betracht und schien selbst so wenig Ehrgeiz zu haben, daß eine etwaige Bevorzugung durch den neuen Magister keine Benachteiligung von Mitstrebenden bedeutet hätte. Das Meiste und Beste mußte Knecht immerhin selber tun, um diese oberste, lebendigste, unruhigste und empfindlichste Schicht der Spielwelt erforschend zu durchdringen und sich ihrer wie der Reiter eines edlen Pferdes zu bemächtigen. Denn in jedem kastalischen Institut, nicht nur beim Glasperlenspiel, stellt die Elite der fertig ausgebildeten, aber noch frei studierenden, noch nicht in den Dienst der Erziehungsbehörde oder des Ordens eingestellten Kandidaten, die man auch Repetenten heißt, den kostbarsten Bestand und recht eigentlich die Reserve, die Blüte und Zukunft dar, und überall, nicht nur im Spielerdorf, ist diese hochgemute Auslese der Nachzucht neuen Lehrern und Vorgesetzten gegenüber durchaus auf Sprödigkeit und Kritik gestimmt, erweist einem neuen Oberhaupt gerade knapp das Mindestmaß an Höflichkeit und Unterordnung und muß durchaus persönlich und mit vollem Einsatz des Werbenden gewonnen, überzeugt und überwunden werden, ehe sie ihn anerkennt und sich seiner Führung willig ergibt.
Knecht stellte sich der Aufgabe ohne Bangen, war über ihre Schwierigkeit aber doch verwundert, und während er sie löste und das für ihn höchst anstrengende, ja aufreibende Spiel gewann, traten jene anderen Pflichten und Aufgaben, an die er eher mit Sorge zu denken geneigt gewesen war, von selber zurück und schienen weniger Aufmerksamkeit zu fordern; er gestand einem Kollegen, daß er die erste Vollsitzung der Behörde, zu welcher er mit Eilpost eintraf und nach deren Beendigung er mit Eilpost zurückreiste, beinah wie im Traume mitgemacht und ihr im Nachhinein keinen Gedanken mehr habe widmen können, so völlig habe die für ihn aktuelle Arbeit ihn in Anspruch genommen; ja sogar während der Beratung selbst, obwohl deren Thema ihn interessierte und obwohl er ihr als seinem ersten Auftreten in der Behörde mit einiger Unruhe entgegengesehen hatte, ertappte er sich mehrmals darauf, daß er mit seinen Gedanken nicht hier unter den Kollegen und bei den Debatten, sondern in Waldzell und in jenem blau getünchten Raum des Archivs war, wo er zur Zeit jeden dritten Tag ein dialektisches Seminar mit nur fünf Teilnehmern hielt und wo jede Stunde eine größere Anspannung und Kraftausgabe forderte als der ganze übrige Amtstag, welcher doch auch nicht leicht war und dem er sich nirgends entziehen konnte, denn wie der Alt-Musikmeister ihm angekündigt hatte, war ihm von der Behörde für diese erste Zeit ein Einpeitscher und Kontrolleur beigegeben worden, der seinen Tageslauf von Stunde zu Stunde überwachen, ihn bei der Zeiteinteilung beraten und ihn vor Einseitigkeiten sowohl wie vor völliger Überanstrengung bewahren mußte. Knecht war ihm dankbar, und noch mehr war er es dem Abgesandten der Ordensleitung, einem Meister der Meditationskunst von großem Ruf; er hieß Alexander. Dieser sorgte dafür, daß der bis zur äußersten Anspannung Arbeitende täglich dreimal der »kleinen« oder »kurzen« Übung nachkam und daß Ablauf und Minutendauer für jede solche Übung genauestens eingehalten wurden. Mit den beiden, dem Einpauker und dem kontemplativen Ordensmann, hatte er täglich, dicht vor der Abendmeditation, seinen Amtstag rückblickend zu rekapitulieren, Fortschritte und Niederlagen festzustellen, sich »den Puls zu fühlen,« wie die Meditationslehrer es nennen, das heißt, sich selbst, seine augenblickliche Lage, sein Befinden, die Verteilung seiner Kräfte, seine Hoffnungen und Sorgen zu erkennen und zu messen, sich selbst und sein Tagewerk objektiv zu sehen und nichts Ungelöstes in die Nacht und den andern Tag mit hinüberzunehmen.