Diese Worte waren vor etwa drei Generationen von einem weisen alten Manne und Meister seiner Kunst geschrieben worden, zu einer Zeit übrigens, als das Glasperlenspiel formal vielleicht seine höchste Kultur erreicht hatte, es war damals in den Spielen eine Zierlichkeit und reiche Ornamentik der Ausführung erreicht worden, wie etwa in der Spätgotik oder im Rokoko die Bau- und Dekorationskunst sie erreicht hatte, es war etwa zwei Jahrzehnte lang ein Spielen wirklich wie mit Glasperlen gewesen, ein scheinbar gläsernes und inhaltarmes, scheinbar kokettes, scheinbar übermütiges Spielen voll zarter Schmuckformen, ein tänzerisches, ja manchmal ein seiltänzerisches Schweben in differenziertester Rhythmik; es gab Spieler, welche vom damaligen Stil wie von einem verlorengegangenen Zauberschlüssel sprachen, und andre, die ihn als äußerlich mit Schmuck überladen, dekadent und unmännlich empfanden. Einer der Meister und Mitschöpfer des damaligen Stiles war es gewesen, der die wohlüberlegten, freundlichen Ratschläge und Mahnungen des Magisterkalenders verfaßt hatte, und indem Josef Knecht seine Worte ein zweites und drittes Mal prüfend las, spürte er eine heitere, wohlige Bewegung im Herzen, eine Stimmung, die er, wie ihm schien, erst ein einziges Mal und seither nicht wieder empfunden hatte, und als er nachdachte, war es in jener Meditation vor seiner Investitur gewesen, und war die Stimmung, die ihn damals bei der Vorstellung jenes wunderlichen Reigens erfüllt hatte, des Reigens zwischen Musikmeister und Josef, zwischen Meister und Anfänger, zwischen Alter und Jugend. Es war ein alter, ein schon greiser Mann gewesen, der einst die Worte geschrieben und gedacht hatte; »Laß keine Woche vergehen…« und »nicht durch Erzwingenwollen von guten Einfällen.« Es war ein Mann gewesen, der mindestens zwanzig Jahre, vielleicht viel länger, das hohe Amt des Spielmeisters bekleidet, der es in der Zeit jenes spielfrohen Rokoko ohne Zweifel mit einer höchst verwöhnten und selbstsicheren Elite zu tun gehabt, der mehr als zwanzig der damals noch vier Wochen dauernden, glänzenden Jahresspiele erfunden und zelebriert hatte, ein alter Mann, dem die jährlich wiederkehrende Aufgabe, ein großes solennes Spiel zu komponieren, längst nicht mehr nur eine hohe Ehre und Freude, sondern weit mehr eine Last und große Mühe bedeutete, eine Aufgabe, zu der man sich selber stimmen, gut zureden und ein wenig stimulieren muß. Diesem weisen Alten und erfahrenen Ratgeber gegenüber nun fühlte Knecht nicht nur dankbare Ehrfurcht, denn sein Kalender war ihm schon oft ein wertvoller Führer gewesen, sondern er fühlte auch eine freudige, ja lustige und übermütige Überlegenheit, die Überlegenheit der Jugend. Denn unter den vielen Sorgen eines Glasperlenspielmeisters, die er schon hatte kennenlernen, kam doch diese eine Sorge nicht vor: man könnte etwa nicht rechtzeitig genug an das Jahresspiel denken, man könnte dieser Aufgabe nicht freudig und gesammelt genug begegnen, es könnte einem für ein solches Spiel an Unternehmungslust oder gar an Einfällen fehlen. Nein, Knecht, der sich in diesen Monaten zuweilen recht alt erschienen war, fühlte sich zur Stunde jung und stark. Er konnte sich diesem schönen Gefühl nicht lange hingeben, es nicht auskosten, seine kurze Ruhezeit war schon nahezu vorbei. Aber das schöne, frohe Gefühl saß in ihm, er nahm es mit, und so hatten die kurze Rast im Magistergarten und das Lesen im Kalender doch etwas gebracht und geboren. Nämlich nicht nur eine Entspannung und einen Augenblick freudig gesteigerten Lebensgefühls, sondern auch zwei Einfälle, welche beide im selben Augenblick auch schon die Qualität von Entschlüssen annahmen. Erstens: er wollte, wenn einst auch er alt und müde wäre, sein Amt in der Stunde niederlegen, wo er zum erstenmal die Komposition des Jahresspiels als lästige Pflicht empfinden und um Einfälle dazu verlegen sein würde. Zweitens: er wollte mit den Arbeiten für sein erstes Jahresspiel schon bald beginnen, und als Kameraden und ersten Gehilfen bei dieser Arbeit wollte er Tegularius zu sich rufen, das wäre eine Genugtuung und Freude für den Freund, und für ihn selbst wäre es ein erster Anlauf, es mit einer neuen Lebensform dieser zur Zeit lahmgelegten Freundschaft zu versuchen. Denn dazu konnte nicht jener den Anlaß und Anstoß geben; sie mußten von ihm, dem Magister, ausgehen.
Für den Freund würde es dabei sogar reichlich zu tun geben. Denn schon seit Mariafels trug Knecht den Einfall zu einem Glasperlenspiele mit sich herum, den er für sein erstes feierliches Spiel als Magister benutzen wollte. Es sollte diesem Spiel, dies war der hübsche Einfall, für Struktur und Dimensionen das alte, konfuzianisch rituelle Schema des chinesischen Hausbaues zugrunde liegen, die Orientierung nach den Himmelsrichtungen, die Tore, die Geistermauer, die Verhältnisse und Bestimmungen der Bauten und Höfe, ihre Zuordnung zu den Gestirnen, dem Kalender, dem Familienleben, dazu die Symbolik und Stilregeln des Gartens. Es war ihm einst, beim Studium eines Kommentares zum I Ging, die mythische Ordnung und Bedeutsamkeit dieser Regeln als ein besonders ansprechendes und liebenswürdiges Gleichnis des Kosmos und der Einordnung des Menschen in die Welt erschienen, auch fand er uralt mythischen Volksgeist in dieser Tradition des Hausbaues wunderbar innig mit spekulativgelehrtem Mandarinen- und Magistergeist vereinigt. Er hatte sich, ohne freilich je Notizen zu machen, mit dem Gedanken an den Plan dieses Spieles oft und liebevoll genug beschäftigt, um es eigentlich als Ganzes schon fertig vorgebildet in sich zu tragen; erst seit seinem Amtsantritt war er dazu nicht mehr gekommen. Jetzt stand im Augenblick sein Entschluß fest, auf dieser chinesischen Idee sein Festspiel aufzubauen, und Fritz sollte schon jetzt, falls er sich dem Geist dieses Einfalls zu öffnen vermochte, mit den Studien für den Ausbau und mit den Vorbereitungen für die Übertragung in die Spielsprache beginnen. Nur war da ein Hindernis: Tegularius konnte kein Chinesisch. Es noch zu lernen, dazu war es viel zu spät. Aber nach Hinweisen, die ihm teils Knecht selbst, teils das ostasiatische Studienhaus geben würde, konnte Tegularius in die magische Symbolik des Chinesenhauses mit Hilfe der Literatur recht wohl eindringen, es ging ja hier nicht um Philologie. Immerhin brauchte es Zeit, zumal bei einem verwöhnten und nicht jeden Tag arbeitslustigen Menschen, wie sein Freund einer war, und so war es gut, die Sache gleich anzugehen; es hatte also, so sah er lächelnd und angenehm überrascht, der vorsichtige alte Herr im Taschenkalender vollkommen recht behalten.