,Du ermüdest dich, Josef,« sagte er leise und mit einer Stimme voll jener rührenden Freundlichkeit und Fürsorge, die du an ihm kennst. Dies war alles. »Du ermüdest dich, Josef.« Als habe er mir lange Zeit bei einer allzu angestrengten Arbeit zugesehen und wolle mich jetzt mahnen. Er sprach die Worte ein wenig mühsam, als habe er schon recht lange Zeit die Lippen nicht mehr zum Sprechen gebraucht. Zugleich legte er seine Hand auf meinen Arm, sie war leicht wie ein Schmetterling, sah mir eindringlich in die Augen und lächelte. In diesem Augenblick war ich besiegt. Etwas von seiner heiteren Stille, etwas von seiner Geduld und Ruhe ging in mich über, und plötzlich überkam mich das Verständnis für den Alten und für die Wendung, die sein Wesen genommen hatte, weg von den Menschen und hin zur Stille, weg von den Worten und hin zur Musik, weg von den Gedanken und hin zur Einheit. Ich begriff, was mir hier anzuschauen vergönnt war, und begriff nun auch erst dieses Lächeln, dieses Strahlen; es war ein Heiliger und Vollendeter, der mir hier für eine Stunde in seinem Glanz mitzuwohnen erlaubte und den ich Stümper hatte unterhalten, ausfragen und zu einer Konversation verführen wollen. Gott sei Dank war mir das Licht nicht zu spät aufgegangen. Er hätte mich auch wegschicken und damit für immer ablehnen können. Ich wäre damit um das Merkwürdigste und Herrlichste gekommen, was ich je erlebt habe.«
»Ich sehe,« sagte Ferromonte nachdenklich, »daß Ihr in unserem Alt-Musikmeister so etwas wie einen Heiligen gefunden habet, und es ist gut, daß gerade Ihr es seid, der es mir berichtet hat. Ich gestehe, daß ich von jedem andern Erzähler den Bericht nur mit dem größten Mißtrauen entgegengenommen hätte. Ich bin, alles in allem, gar kein Liebhaber des Mystischen, und namentlich bin ich, als Musiker und als Historiker, ein Freund und Pedant der reinlichen Kategorien. Da wir in Kastalien weder eine christliche Kongregation sind noch ein indisches oder taoistisches Kloster, scheint mir die Einreihung unter die Heiligen, unter eine rein religiöse Kategorie also, für einen von uns eigentlich nicht zulässig, und einem andern als dir – verzeihet, als Euch, Domine – würde ich diese Einreihung als eine Entgleisung vorhalten. Aber ich denke mir, Ihr werdet kaum die Absicht haben, zugunsten des verehrten Alt-Magisters ein Kanonisierungsverfahren einzuleiten, es würde dafür in unsrem Orden sich ja auch die zuständige Behörde nicht finden. Nein, unterbrechet mich nicht, ich spreche im Ernst; es ist keineswegs spaßhaft gemeint. Ihr habt mir ein Erlebnis erzählt, und ich muß gestehen, daß es mich ein wenig beschämt hat, denn das von Euch geschilderte Phänomen ist zwar mir und meinen Monteporter Kollegen nicht völlig entgangen, aber wir haben es doch nur eben zur Kenntnis genommen und ihm wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Ich besinne mich über die Ursache meines Versagens und meiner Gleichgültigkeit. Daß die Verwandlung des Altmeisters Euch so sehr auffiel und zur Sensation wurde, während ich sie kaum bemerkte, erklärt sich natürlich dadurch, daß diese Verwandlung Euch unerwartet und als fertiges Resultat entgegentrat, während ich Zeuge ihrer langsamen Entwicklung war. Der Alt-Magister, den Ihr vor Monaten und den Ihr heute gesehen habet, sind sehr voneinander verschieden, während wir Nachbarn vom einen zum andern Mal des Wiederbegegnens kaum merkliche Veränderungen antrafen. Aber ich gestehe, die Erklärung genügt mir nicht. Wenn sich vor unsern Augen so etwas wie ein Wunder vollzieht, sei es auch noch so leise und langsam, so müßten wir, wenn wir unvoreingenommen wären, davon stärker berührt werden, als es mir geschehen ist. Und hier stoße ich auf die Ursache meiner Verschlossenheit: ich war eben keineswegs unvoreingenommen. Daß ich das Phänomen nicht bemerkte, geschah, weil ich es nicht bemerken wollte. Bemerkt habe ich, wie jeder, die zunehmende Zurückgezogenheit und Schweigsamkeit unseres Verehrten, und die gleichzeitige Steigerung seiner Freundlichkeit, das immer heller und unsinnlicher werdende Glänzen seines Gesichts, wenn er beim Begegnen meinen Gruß stumm erwiderte. Das habe ich und jeder hat es natürlich wohl bemerkt. Aber ich wehrte mich dagegen, mehr darin zu sehen, und ich wehrte mich nicht aus Mangel an Ehrfurcht gegen den alten Magister, sondern zum Teil aus einer Abneigung gegen Personenkult und Schwärmerei im allgemeinen, zum Teil aus Abneigung gegen eben diese Schwärmerei im speziellen Falle, gegen die Art von Kultus nämlich, die der Studiosus Petrus mit seinem Meister und Abgott treibt. Dies ist mir während Eurer Erzählung vollends klargeworden.«
»Das war,« lachte Knecht, »immerhin ein Umweg, um dir selber deine Abneigung gegen den armen Petrus zu entdecken. Aber wie steht es nun? Bin auch ich ein Mystiker und Schwärmer? Treibe auch ich verbotenen Personen- und Heiligenkult? Oder gestehst du mir zu, was du dem Studenten nicht zugestandest, nämlich, daß wir etwas gesehen und erlebt haben, nicht Träume und Phantasien, sondern etwas Reales und Gegenständliches?«
»Natürlich gestehe ich es Euch zu,« sagte Carlo langsam und überlegend, »niemand wird an Eurem Erlebnis und an der Schönheit oder Heiterkeit des Alt-Magisters zweifeln, der einem so unglaublich zulächeln kann. Die Frage ist nur: wohin tun wir das Phänomen, wie benennen wir es, wie erklären wir es? Es klingt schulmeisterlich, aber wir Kastalier sind nun einmal Schulmeister, und wenn ich Euer und unser Erlebnis einzuordnen und zu benennen wünsche, so wünsche ich das nicht, weil ich seine Wirklichkeit und Schönheit durch Abstraktion und Verallgemeinerung auflösen, sondern weil ich sie möglichst bestimmt und deutlich aufzeichnen und festhalten möchte. Wenn ich auf einer Reise irgendwo einen Bauern oder ein Kind eine Melodie summen höre, die ich nicht kannte, so ist mir das ebenfalls ein Erlebnis, und wenn ich dann diese Melodie sofort und so genau wie möglich in Noten aufzuschreiben versuche, so ist das kein Abtun und Weglegen, sondern eine Ehrung und Verewigung meines Erlebnisses.«
Knecht nickte ihm freundschaftlich zu. »Carlo,« sagte er, »es ist ein Jammer, daß wir uns so selten mehr sehen können. Nicht alle Jugendfreunde bewähren sich bei jedem Wiedersehen. Ich bin mit meiner Erzählung vom alten Magister zu dir gekommen, weil du hier am Ort der einzige bist, an dessen Mitwissen und Teilnahme mir gelegen ist. Ich muß es nun dir überlassen, was du mit meiner Erzählung anfangen und wie du den verklärten Zustand unsres Meisters benennen willst. Ich würde mich freuen, wenn du ihn einmal aufsuchen und eine kleine Weile in seiner Aura weilen wolltest. Sein Zustand von Gnade, Vollendung, Altersweisheit, Seligkeit, oder wie immer wir ihn nennen wollen, mag dem religiösen Leben angehören; wenn wir Kastalier auch keine Konfession und keine Kirche haben, so ist Frömmigkeit uns doch nichts Unbekanntes; gerade unser Alt-Musikmeister ist stets ein durch und durch frommer Mensch gewesen. Und da es Berichte von Begnadeten, Vollendeten, Strahlenden, Verklärten in vielen Religionen gibt, warum sollte nicht auch unsre kastalische Frömmigkeit einmal zu dieser Blüte kommen? – Es ist spät geworden, ich sollte schlafen gehen, morgen muß ich in aller Frühe reisen. Ich hoffe bald wiederzukommen. Laß mich dir nur noch ganz kurz meine Geschichte zu Ende erzählen! Also nachdem er zu mir gesagt hatte: »Du ermüdest dich,« gelang es mir endlich, von meinen Bemühungen um die Einleitung eines Gespräches abzustehen und nicht nur still zu sein, sondern auch meinen Willen von dem falschen Ziel abzurufen, diesen Schweiger mit Hilfe von Wort und Unterredung erforschen und von ihm profitieren zu wollen. Und vom Augenblick an, in dem ich verzichtete und alles dem andern überließ, ging es wie von selbst. Du magst nachher meine Ausdrücke beliebig durch andre ersetzen, jetzt aber höre mich an, auch wenn ich ungenau scheine oder Kategorien verwechsle. Ich war etwa eine Stunde oder anderthalbe bei dem Alten, und ich kann dir nicht mitteilen, was zwischen ihm und mir vorgegangen oder ausgetauscht worden ist, Worte sind dabei nicht gesprochen worden. Ich fühlte nur, nachdem mein Widerstand gebrochen war, daß er mich in seinen Frieden und seine Helligkeit mit aufnahm, es umschloß ihn und mich Heiterkeit und wunderbare Ruhe. Ohne daß ich mit Willen und Wissen meditiert hätte, glich es einigermaßen einer besonders geglückten und beglückenden Meditation, deren Thema das Leben des Alt-Magisters gewesen wäre. Ich sah ihn oder fühlte ihn und den Gang seines Werdens von damals an, wo er mir, einem Knaben, zum erstenmal begegnete, bis zur jetzigen Stunde. Es war ein Leben der Hingabe und Arbeit, aber frei von Zwang, frei von Ehrgeiz und voll von Musik. Und es entwickelte sich so, als habe er, indem er Musiker und Musikmeister wurde, die Musik als einen der Wege zum höchsten Ziel des Menschen, zur Innern Freiheit, zur Reinheit, zur Vollkommenheit erwählt, und als habe er seitdem nichts anderes getan, als sich von der Musik immer mehr durchdringen, verwandeln, läutern zu lassen, von den gewandten, klugen Cembalistenhänden und dem reichen riesigen Musikergedächtnis bis in alle Teile und Organe des Leibes und der Seele, bis in die Pulse und Atemzüge, bis in den Schlaf und Traum, und sei jetzt nur noch ein Symbol, vielmehr eine Erscheinungsform, eine Personifikation der Musik. Wenigstens habe ich das, was von ihm ausstrahlte oder was zwischen ihm und mir wie rhythmisches Atmen hin und her wogte, durchaus als Musik empfunden, als eine völlig unmateriell gewordene, esoterische Musik, welche jeden in den Zauberkreis Eintretenden mit aufnimmt wie ein mehrstimmiges Lied eine neu einfallende Stimme. Einem Nichtmusiker wäre die Gnade vielleicht in anderen Bildern wahrnehmbar geworden, ein Astronom hätte vielleicht sich als Mond um einen Planeten kreisen sehen, oder ein Philologe sich in einer allbedeutsamen, magischen Ursprache angeredet gehört. Genug nun, ich verabschiede mich. Es war mir eine Freude, Carlo.«