Wir haben diese Episode etwas ausführlich mitgeteilt, da der Musikmeister in Knechts Leben und Herzen einen so wichtigen Platz einnahm; mit dazu bewogen oder verführt hat uns der Umstand, daß Knechts Unterhaltung mit Ferromonte in des letzteren eigener Niederschrift, in einem Briefe, auf uns gekommen ist. Über die »Verklärung« des Alt-Musikmeisters ist dieser Bericht gewiß der früheste und zuverlässigste, später gab es ja über dies Thema Legenden und Deutungen übergenug.
Die Beiden Pole
Das Jahresspiel, als »Chinesenhausspiel« noch heute bekannt und nicht selten zitiert, brachte Knecht und seinem Freunde die Früchte ihrer Arbeit und brachte Kastalien und der Behörde die Bestätigung, daß mit Knechts Berufung in das höchste Amt das Richtige geschehen sei. Wieder einmal erlebte Waldzell, das Spielerdorf und die Elite, die Genugtuung einer glänzenden und hochgestimmten Festzeit, ja das Jahresspiel war seit langem nicht mehr ein solches Ereignis gewesen wie diesmal, wo der jüngste und meistbesprochene Magister sich zum erstenmal vor aller Öffentlichkeit zeigen und bewähren und wo außerdem Waldzell den im vergangenen Jahre erlittenen Verlust und Mißerfolg wettmachen sollte. Diesmal lag niemand krank, und es stand kein eingeschüchterter Stellvertreter ängstlich der großen Zeremonie vor, vom wachsamen Übelwollen und Mißtrauen der Elite eisig umlauert, von nervös gewordenen Beamten treu, aber schwunglos unterstützt. Lautlos, unnahbar, ganz Hohepriester, weiß und golden gekleidete Leitfigur auf dem feierlichen Schachbrett der Symbole, zelebrierte der Magister sein und seines Freundes Werk; Ruhe, Kraft und Würde ausstrahlend, keinem profanen Anruf erreichbar, erschien er im Festsaal inmitten seiner vielen Ministranten, eröffnete Akt um Akt seines Spiels mit den rituellen Gebärden, schrieb zierlich mit leuchtendem Goldgriffel Zeichen um Zeichen auf die kleine Tafel, vor welcher er stand, und alsbald erschienen dieselben Zeichen in der Spiel-Chiffernschrift, hundertmal vergrößert, auf der Riesentafel der hinteren Saalwand, wurden von tausend flüsternden Stimmen nachbuchstabiert, von den Sprechern laut ausgerufen, von den Fernmeldern ins Land und in die Welt hinaus entsendet, und als er am Ende des ersten Aktes die den Akt resümierende Formel auf die Tafel beschwor, mit anmutvoller und eindrücklicher Haltung die Meditationsvorschriften gab, den Griffel niederlegte und sich, niedersitzend, mit beispielhafter Haltung in die Versenkungsstellung begab, da setzten sich nicht nur im Saale, im Spielerdorf und in Kastalien, sondern auch draußen in manchem Lande der Erde die Gläubigen des Glasperlenspiels andächtig zu derselben Meditation nieder und verharrten in ihr bis zum Augenblick, da im Saale der Magister sich wieder erhob. Es war alles, wie es viele Male gewesen war, und war doch alles herzbewegend und neu. Die abstrakte und scheinbar zeitlose Welt des Spieles war elastisch genug, in hundert Nuancen auf Geist, Stimme, Temperament und Handschrift einer Persönlichkeit zu reagieren, die Persönlichkeit groß und kultiviert genug, ihre Einfälle nicht für wichtiger zu halten als die unantastbare Eigengesetzlichkeit des Spieles, die Helfer und Mitspieler, die Elite, gehorchten wie gut gedrillte Soldaten, und doch schien jeder einzelne von ihnen, auch wenn er nur die Verneigungen mit ausführte oder den Vorhang um den meditierenden Meister bedienen half, sein eigenes, aus seiner eigenen Inspiration lebendes Spiel zu begehen. Aus der Menge aber, aus der großen, den Saal und ganz Waldzell überfüllenden Gemeinde, aus den tausend Seelen, welche auf des Meisters Spur den phantastisch-hieratischen Gang durch die unendlichen, vieldimensionalen Vorstellungsräume des Spieles schritten, kam der Feier der Grundakkord und tief bebende Glockenbaß, der für die kindlicheren Glieder der Gemeinde das beste und beinahe einzige Erlebnis beim Feste ist, der aber auch von den durchtriebenen Spielvirtuosen und Kritikern der Elite, von den Ministranten und Beamten bis hinauf zum Leiter und Meister mit ehrfürchtigem Schauer empfunden wird.
Es war eine hohe Feier, auch die Abgesandten von draußen spürten und bekundeten es, und mancher Neuling wurde in diesen Tagen auf immer für das Glasperlenspiel gewonnen. Merkwürdig aber klingen die Worte, in welche Josef Knecht nach Beendigung des zehntägigen Festes seinem Freunde Tegularius gegenüber sein Erlebnis zusammenfaßte. »Wir können zufrieden sein,« sagte er. »Ja, Kastalien und das Glasperlenspiel sind wunderbare Dinge, etwas nahezu Vollkommenes sind sie. Nur sind sie es vielleicht allzu sehr, sind allzu schön; sie sind so schön, daß man sie kaum betrachten kann, ohne für sie zu fürchten. Man denkt nicht gerne daran, daß sie wie alles einmal wieder vergehen sollen. Und doch muß man daran denken.«
Dieses uns überlieferte Wort nötigt den Biographen, sich dem heikelsten und geheimnisvollsten Teil seiner Aufgabe zu nähern, dem er wohl gerne noch sich eine Weile ferngehalten hätte, um erst mit der Ruhe und dem Behagen, welches klare und eindeutige Zustände ihrem Schilderer gönnen, seinen Bericht von Knechts Erfolgen, seiner vorbildlichen Amtsführung und glänzenden Lebenshöhe zu Ende zu führen. Allein es schiene uns verfehlt und unserem Gegenstande nicht angemessen, die Zweiheit oder Polarität in des verehrten Meisters Wesen und Leben nicht auch schon dort zu erkennen und aufzuzeigen, wo sie noch niemandem, Tegularius ausgenommen, sichtbar gewesen ist. Vielmehr wird es unsere Aufgabe sein, von jetzt an diese Spaltung oder besser diese unaufhörlich pulsierende Polarität in Knechts Seele recht als das Eigentliche und Kennzeichnende im Wesen des Verehrten anzunehmen und zu bejahen. Es wäre nämlich einem Autor, der die Lebensbeschreibung eines kastalischen Magisters ganz nur im Sinne eines Heiligenlebens ad maiorem gloriam Castaliae zu schreiben für erlaubt hielte, durchaus nicht schwer gemacht, den Bericht von Josef Knechts Magisterjahren, mit einziger Ausnahme ihrer letzten Augenblicke, ganz als eine glorifizierende Aufzählung von Verdiensten, Pflichterfüllungen und Erfolgen zu gestalten. Leben und Amtsführung jedes beliebigen Glasperlenspielmeisters, auch etwa jenen Magister Ludwig Wassermaler der spielfreudigsten Epoche Waldzells nicht ausgenommen, kann dem Blick des Historikers, der sich nur an die dokumentierten Tatsachen hält, nicht einwandfreier und lobenswerter erscheinen als Leben und Amtsführung des Magisters Knecht. Dennoch hat diese Amtsführung ein ganz ungewöhnliches und Aufsehen erregendes, ja für das Empfinden mancher Beurteiler skandalisierendes Ende genommen, und dieses Ende war nicht etwa ein Zufall oder Unglücksfall, sondern ergab sich völlig folgerichtig, und es gehört mit zu unserer Aufgabe, zu zeigen, daß es mit den glänzenden und rühmenswerten Leistungen und Erfolgen des Ehrwürdigen keineswegs im Widerspruch steht. Knecht ist ein großer und vorbildlicher Verwalter und Repräsentant seines hohen Amtes gewesen, ein Glasperlenspielmeister ohne Tadel. Aber er sah und fühlte den Glanz Kastaliens, dem er diente, als eine gefährdete und schwindende Größe, er lebte in ihm nicht ahnungslos und bedenkenlos mit wie die große Mehrzahl seiner Mitkastalier, sondern wußte um seine Herkunft und seine Geschichte, empfand ihn als ein geschichtliches Wesen, der Zeit unterworfen und von ihrer mitleidlosen Gewalt umspült und erschüttert. Dieses Erwachtsein zum lebendigen Gefühl geschichtlichen Ablaufes und dies Empfinden der eigenen Person und Tätigkeit als einer im Strom des Werdens und Sichwandelns mittreibenden und mittätigen Zelle waren in ihm reif geworden und zum Bewußtsein gelangt durch seine historischen Studien und unter dem Einfluß des großen Paters Jakobus, aber die Anlagen und Keime dazu waren längst vorher dagewesen, und wem wirklich die Persönlichkeit Josef Knechts lebendig geworden, wer wirklich der Eigenart und dem Sinn dieses Lebens auf der Spur ist, wird diese Anlagen und Keime leicht auffinden.