Der Mann, der an einem der strahlendsten Tage seines Lebens, am Ende seines ersten Festspieles, nach einer ungewöhnlich geglückten und eindrucksvollen Kundgebung des kastalischen Geistes gesagt hat: »Man denkt nicht gerne daran, daß Kastalien und das Glasperlenspiel einmal wieder vergehen sollen – und doch muß man daran denken,« dieser Mann hat von früh an, auch als er längst noch kein Eingeweihter der Historie war, ein Weltgefühl in sich getragen, dem die Vergänglichkeit alles Gewordenen und die Problematik alles vom Menschengeist Geschaffenen vertraut war. Gehen wir in seine Knaben- und Schülerjahre zurück, so stoßen wir auf die Nachricht, daß er jedesmal, wenn in Eschholz ein Mitschüler verschwand, weil er die Lehrer enttäuscht hatte und wieder aus der Elite in die gewöhnlichen Schulen zurückgeschickt worden war, eine tiefe Beklommenheit und Beunruhigung empfand. Von keinem dieser Ausgeschiedenen ist überliefert, daß er persönlich dem jungen Knecht befreundet gewesen sei; es war nicht der Verlust, es war nicht das Ausscheiden und Verschwinden der Personen, was ihn erregte und mit angstvollem Weh bedrückte. Es war vielmehr die leise Erschütterung seines kindlichen Glaubens an den Bestand der kastalischen Ordnung und der kastalischen Vollkommenheit, welche ihm dieses Weh bereitete. Daß es Knaben und Jünglinge gab, denen das Glück und die Gnade der Aufnahme in die Eliteschulen der Provinz begegnet war und welche diese Gnade wieder verscherzten und wegwarfen, darin lag für ihn, der seine Berufung so heilig ernst nahm, etwas Erschütterndes, ein Zeugnis von der Macht der nichtkastalischen Welt. Vielleicht auch – beweisen läßt es sich nicht – riefen solche Vorkommnisse in dem Knaben erste Zweifel an der bis dahin angenommenen Unfehlbarkeit der Erziehungsbehörde wach, da diese Behörde je und je auch Schüler nach Kastalien brachte, deren sie sich nach einer Weile wieder entledigen mußte. Ob nun nebenher auch dieser Gedanke, die frühste Regung einer Kritik an der Autorität also, mitgespielt habe oder nicht, jedesmal wurde von dem Knaben die Entgleisung und Rücksendung eines Eliteschülers als ein Unglück nicht nur, sondern als eine Ungehörigkeit empfunden, als ein häßlicher Fleck, der einen anstarrte und dessen Vorhandensein an sich schon ein Vorwurf war und ganz Kastalien mitverantwortlich machte. Hierin, glauben wir, ist das Gefühl von Erschütterung und Verstörung begründet, dessen der Schüler Knecht bei solchen Anlässen fähig war. Es gab draußen hinter den Grenzen der Provinz eine Welt und ein Menschenleben, welche zu Kastalien und seinen Gesetzen im Widerspruch standen, welche nicht in der hiesigen Ordnung und Rechnung aufgingen und von ihr nicht zu bändigen und zu sublimieren waren. Und natürlich kannte er das Vorhandensein dieser Welt auch in seinem eigenen Herzen. Auch er hatte Triebe, Phantasien und Gelüste, welche den Gesetzen widersprachen, unter denen er stand, Triebe, deren Zähmung nur allmählich gelang und harte Mühe kostete. Diese Triebe also konnten in manchen Schülern so stark werden, daß sie über alles Mahnen und Strafen hinweg sich durchsetzten und die ihnen Verfallenen aus der Elitewelt Kastaliens in jene andere Welt zurückführten, welche nicht von Zucht und Geistespflege, sondern eben von Naturtrieben beherrscht wurde und welche dem um kastalische Tugend Bemühten bald wie eine böse Unterwelt, bald wie ein verführerischer Spiel- und Tummelplatz erscheinen mußte. Viele junge Gewissen seit Generationen haben den Begriff der Sünde in dieser kastalischen Form erfahren. Und viele Jahre später, als Erwachsener und Liebhaber der Geschichte, sollte er ja des genauern erkennen, daß Geschichte nicht ohne den Stoff und die Dynamik dieser Sündenwelt des Egoismus und des Trieblebens entstehen kann und daß auch so sublime Gebilde wie das des Ordens aus dieser trüben Flut geboren und irgendeinmal von ihr wieder verschlungen werden. Das Problem Kastaliens also war es, das allen starken Bewegungen, Strebungen und Erschütterungen in Knechts Leben zugrunde lag, und niemals ist dies für ihn nur ein denkerisches Problem gewesen, sondern eines, das ihn wie kein anderes im Innersten anging und für das er sich mitverantwortlich wußte. Er gehörte zu jenen Naturen, welche daran krank werden, hinsiechen und sterben können, daß sie die von ihnen geliebte und geglaubte Idee, das von ihnen geliebte Vaterland und Gemeinwesen erkranken und Not leiden sehen.
Wir verfolgen den Faden weiter und stoßen auf die erste Waldzeller Zeit Knechts, seine letzten Schülerjahre und sein bedeutungsvolles Zusammentreffen mit dem Gastschüler Designori, das wir ja an seiner Stelle eingehend geschildert haben. Diese Begegnung zwischen dem glühenden Anhänger des kastalischen Ideals und dem Weltkind Plinio war nicht nur ein heftiges und lange nachwirkendes, sie war auch ein tief wichtiges und gleichnishaftes Erlebnis für den Schüler Knecht. Denn es wurde ihm damals jene so bedeutende wie anstrengende Rolle aufgezwungen, welche, scheinbar vom Zufall ihm zugeworfen, seinem ganzen Wesen so sehr entsprach, daß man beinahe sagen möchte, sein späteres Leben sei nichts als ein Wiederaufnehmen dieser Rolle und ein immer vollkommeneres Hineinwachsen in sie gewesen, in die Rolle nämlich des Verteidigers und Repräsentanten Kastaliens, wie er sie dann etwa zehn Jahre später gegen den Pater Jakobus aufs neue zu spielen hatte und als Glasperlenspielmeister bis zu Ende gespielt hat, eines Verteidigers und Repräsentanten des Ordens und seiner Gesetze, der aber immerzu innig bereit und bemüht war, vom Gegenspieler zu lernen und nicht die Abkapselung und starre Isolierung Kastaliens, sondern sein lebendiges Zusammenspiel und seine Auseinandersetzung mit der Außenwelt zu fördern. Was im geistigen und rednerischen Wettkampf mit Designori zum Teil noch Spiel gewesen war, wurde später, dem so gewichtigen Gegner und Freund Jakobus gegenüber, tiefer Ernst, und gegen beide Gegenspieler hat er sich bewährt, ist an ihnen gewachsen, hat von ihnen gelernt, hat im Kampf und Austausch nicht weniger gegeben als genommen und hat beide Male den Gegner zwar nicht besiegt, was ja von Anfang an nicht das Kampfziel war, aber ihn zur ehrenvollen Anerkennung seiner Person wie des von ihm vertretenen Prinzips und Ideals zu zwingen vermocht. Auch wenn die Auseinandersetzung mit dem gelehrten Benediktiner nicht unmittelbar zu jenem praktischen Ergebnis, der Errichtung einer halb-offiziellen Vertretung Kastaliens beim Heiligen Stuhl geführt hätte, wäre sie von höherem Wert gewesen, als die Mehrzahl der Kastalier ahnte.