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Er studierte damals auch die Verfassung und Statuten des Ordens noch einmal gründlich und sah, daß sein Entkommen aus der Provinz im Grunde nicht so schwer, nicht so beinahe unmöglich zu erreichen sei, wie er es sich anfangs vorgestellt hatte. Sein Amt aus Gewissensgründen niederzulegen, stand ihm frei, den Orden zu verlassen ebenfalls, das Ordensgelübde war keines auf Lebenszeit, wennschon nur selten ein Mitglied, und niemals ein Glied der höchsten Behörde, von dieser Freiheit Gebrauch gemacht hatte. Nein, was ihm den Schritt so schwer erscheinen ließ, war nicht die Strenge des Gesetzes, es war der hierarchische Geist selbst, die Loyalität und Bundestreue in seinem eigenen Herzen. Gewiß, er wollte ja nicht heimlich entlaufen, er bereitete ein umständliches Gesuch zur Erlangung seiner Freiheit vor, das Kind Tegularius schrieb sich daran die Finger schwarz. Aber er glaubte an den Erfolg dieses Gesuches nicht. Man würde ihn begütigen, ihn ermahnen, ihm vielleicht einen Erholungsurlaub anbieten, nach Mariafels, wo Pater Jakobus vor kurzem gestorben war, oder vielleicht nach Rom. Aber loslassen würde man ihn nicht, das glaubte er immer sicherer zu wissen. Ihn loszulassen, würde aller Tradition des Ordens widersprechen. Täte es die Behörde, so würde sie damit zugeben, daß sein Verlangen berechtigt sei, sie würde zugeben, daß das Leben in Kastalien, und gar auf so hohem Posten, unter Umständen einem Menschen nicht genügen, ihm Verzicht und Gefangenschaft bedeuten könne.

Das Rundschreiben

Wir nähern uns dem Ende unsrer Erzählung. Wie schon angedeutet, ist unser Wissen um dieses Ende lückenhaft und trägt beinahe mehr den Charakter einer Sage als den eines historischen Berichtes. Wir müssen uns damit begnügen. Desto angenehmer aber ist es uns, dieses vorletzte Kapitel von Knechts Lebenslauf mit einem authentischen Dokument ausfüllen zu können, mit jenem umfangreichen Schreiben nämlich, in welchem der Glasperlenspielmeister selbst der Behörde die Gründe für seinen Entschluß darlegt und sie um Entlassung aus seinem Amte bittet.

Nur muß freilich gesagt werden, daß Josef Knecht nicht nur, wie wir längst wissen, an einen Erfolg dieses so umständlich vorbereiteten Schreibens nicht mehr glaubte, sondern daß er, als es damit wirklich soweit war, sein »Gesuch« lieber gar nicht mehr geschrieben und eingereicht hätte. Es ging ihm wie allen Menschen, welche eine natürliche und anfänglich unbewußte Macht über andre Menschen ausüben: diese Macht wird nicht ohne Folgen für deren Träger geübt, und wenn der Magister froh darüber gewesen war, seinen Freund Tegularius dadurch für seine Absichten zu gewinnen, daß er ihn zu deren Förderer und Mitarbeiter werden ließ, so war das Geschehene nun stärker als seine eigenen Gedanken und Wünsche. Er hatte Fritz zu einer Arbeit geworben oder verführt, an deren Wert er, der Urheber, nicht mehr glaubte; aber er konnte diese Arbeit, als der Freund sie ihm endlich vorlegte, nicht wieder rückgängig machen, noch konnte er sie weglegen und unbenutzt lassen, ohne den Freund, dem er ja durch sie die Trennung hatte erträglich machen wollen, erst recht zu verletzen und zu enttäuschen. Wie wir zu wissen glauben, hätte es um jene Zeit Knechts Absichten weit eher entsprochen, wenn er ohne weiteres sein Amt niedergelegt und seinen Austritt aus dem Orden erklärt hätte, statt erst den vor seinen Augen nun beinahe zur Komödie gewordenen Umgang mit dem »Gesuch« zu wählen. Aber die Rücksicht auf den Freund bewog ihn, seine Ungeduld nochmals für eine Weile zu beherrschen.

Es wäre wahrscheinlich interessant, das Manuskript des fleißigen Tegularius kennenzulernen. Es bestand in der Hauptsache aus geschichtlichem Material, das er zu Beweis- oder doch Illustrierungszwecken gesammelt hatte, doch gehen wir schwerlich fehl, wenn wir annehmen, daß es auch manches spitz und geistreich formulierte Wort der Kritik an der Hierarchie sowohl wie an der Welt und Weltgeschichte enthalten habe. Allein selbst wenn dies in Monaten einer ungewöhnlich zähen Arbeitsamkeit gefertigte Manuskript, was sehr wohl möglich ist, noch existieren sollte, und wenn es uns zur Verfügung stünde, müßten wir auf seine Mitteilung doch verzichten, da unser Buch nicht der richtige Ort für seine Publikation wäre.

Für uns ist einzig das von Wichtigkeit, welchen Gebrauch der Magister Ludi von seines Freundes Arbeit gemacht hat. Er nahm sie, als dieser sie ihm mit Feierlichkeit überreichte, mit herzlichen Worten des Dankes und der Anerkennung entgegen, und weil er wußte, daß er ihm damit eine Freude mache, bat er ihn, ihm die Arbeit vorzulesen. An mehreren Tagen saß nun Tegularius beim Magister eine halbe Stunde in dessen Garten, denn es war Sommerszelt, und las ihm mit Genugtuung die vielen Blätter vor, aus denen sein Manuskript bestand, und nicht selten wurde die Vorlesung durch lautes Gelächter der beiden unterbrochen. Es waren gute Tage für Tegularius. Nachher aber zog sich Knecht zurück und verfaßte, unter Benutzung mancher Teile von seines Freundes Manuskript, sein Schreiben an die Behörde, das wir im Wortlaut mitteilen und zu welchem kein Kommentar mehr nötig ist.

Das Schreiben des Magister Ludi an die Erziehungsbehörde

Verschiedene Erwägungen haben mich, den Magister Ludi, dazu bestimmt, ein Anliegen besonderer Art, statt es mit in meinen solennen Rechenschaftsbericht aufzunehmen, in diesem gesonderten und gewissermaßen privateren Schreiben vor die Behörde zu bringen. Ich füge zwar dies Schreiben dem fälligen offiziellen Berichte bei und erwarte seine offizielle Erledigung, betrachte es aber doch eher als eine Art kollegialen Rundschreibens an meine Mitmagister.

Es gehört zu den Pflichten des Magisters, die Behörde darauf aufmerksam zu machen, wenn seiner regelgetreuen Amtsführung Hindernisse entgegentreten oder Gefahren drohen. Meine Amtsführung nun ist (oder scheint mir), obwohl ich beflissen bin, dem Amt mit allen meinen Kräften zu dienen, durch eine Gefahr bedroht, welche in meiner eigenen Person ihren Sitz, wohl aber nicht ihren einzigen Ursprung hat. Wenigstens halte ich die moralische Gefahr einer Schwächung meiner persönlichen Eignung zum Glasperlenspielmeister zugleich für eine objektiv und außerhalb meiner Person bestehende Gefahr. Um es ganz kurz auszudrücken: ich habe begonnen, an meiner Fähigkeit zur vollwertigen Führung meines Amtes zu zweifeln, weil ich mein Amt selbst, weil ich das von mir zu pflegende Glasperlenspiel selbst für bedroht halten muß. Die Absicht dieses Schreibens ist es, der Behörde vor Augen zu führen, daß die angedeutete Gefahr bestehe und daß eben diese Gefahr, nachdem ich sie einmal erkannt habe, mich dringlich an einen anderen Ort ruft als den, an welchem ich stehe. Es sei mir erlaubt, die Situation durch ein Gleichnis zu verdeutlichen: es sitzt einer in der Dachstube über einer subtilen Gelehrtenarbeit, da merkt er, daß unten im Hause Feuer ausgebrochen sein muß. Er wird nicht erwägen, ob es seines Amtes sei oder ob er nicht besser seine Tabellen ins reine zu bringen habe, sondern er wird hinunterlaufen und das Haus zu retten suchen. So sitze ich, in einem der obersten Stockwerke unsres kastalischen Baues, mit dem Glasperlenspiel beschäftigt, mit lauter zarten, empfindlichen Instrumenten arbeitend, und werde vom Instinkt her, von der Nase her darauf aufmerksam, daß es irgendwo unten brennt, daß unser ganzer Bau bedroht und gefährdet ist und daß ich jetzt nicht Musik zu analysieren oder Spielregeln zu differenzieren, sondern dorthin zu eilen habe, wo es raucht.

Die Institution Kastalien, unser Orden, unser Wissenschafts- und Schulbetrieb samt Glasperlenspiel und allem scheint den meisten von uns Ordensbrüdern so selbstverständlich wie jedem Menschen die Luft, die er atmet, und der Boden, auf dem er steht. Kaum einer denkt jemals daran, daß diese Luft und dieser Boden etwa auch nicht dasein, daß die Luft uns eines Tages mangeln, der Boden unter uns hinschwinden könnte. Wir haben das Glück, wohlbehütet in einer kleinen, sauberen und heiteren Welt zu leben, und die große Mehrzahl von uns lebt, so wunderlich es scheinen möge, in der Fiktion, diese Welt sei immer gewesen, und wir seien in sie hineingeboren. Ich selbst habe meine jüngeren Jahre in diesem höchst angenehmen Wahn gelebt, während doch die Wirklichkeit mir ganz wohl bekannt war, nämlich, daß ich in Kastalien nicht geboren, sondern durch die Behörden hierher geschickt und erzogen worden sei und daß Kastalien, der Orden, die Behörde, die Lehrhäuser, die Archive und das Glasperlenspiel keineswegs immer dagewesen und ein Werk der Natur seien, sondern eine späte, edle und gleich allem Gemachten vergängliche Schöpfung des Menschenwillens. Dies alles wußte ich, aber es hatte für mich keine Wirklichkeit, ich dachte einfach nicht daran, ich sah daran vorbei, und ich weiß, daß mehr als drei Viertel von uns in dieser wunderlichen und angenehmen Täuschung leben und sterben werden.