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Nicht minder gehört, wie schon das Motto unsrer Abhandlung zeigen mag, Albertus Secundus zu den Vorvätern des Glasperlenspieles. Und wir vermuten, ohne es zwar durch Zitate belegen zu können, daß der Spielgedanke auch jene gelehrten Musiker des sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts beherrschte, welche ihren musikalischen Kompositionen mathematische Spekulationen zugrunde legten. Da und dort in den alten Literaturen stößt man auf Legenden über weise und magische Spiele, die von Gelehrten, Mönchen oder an geistfreundlichen Fürstenhöfen ersonnen und gespielt worden seien, zum Beispiel in Form von Schachspielen, deren Figuren und Felder außer der gewöhnlichen noch ihre Geheimbedeutungen hatten. Und allgemein bekannt sind ja jene Berichte, Märchen und Sagen aus den Jugendzeiten aller Kulturen, welche der Musik, weit über alles nur Künstlerische hinaus, eine seelen- und völkerbeherrschende Gewalt zuschreiben, sie zu einem geheimen Regenten oder einem Gesetzbuch der Menschen und ihrer Staaten machen. Vom ältesten China bis zu den Sagen der Griechen spielt der Gedanke von einem idealen, himmlischen Leben der Menschen unter der Hegemonie der Musik ihre Rolle. Mit diesem Kultus der Musik ("in ewigen Verwandlungen begrüßt uns des Gesangs geheime Macht hienieden« – Novalis) hängt denn auch das Glasperlenspiel aufs innigste zusammen.

Wenn wir nun auch die Idee des Spieles als eine ewige und darum längst vor ihrer Verwirklichung schon immer vorhandene und sich regende erkennen, so hat ihre Verwirklichung in der uns bekannten Form doch ihre bestimmte Geschichte, von deren wichtigsten Etappen wir kurz zu berichten versuchen wollen.

Die geistige Bewegung, deren Früchte unter vielen anderen die Einrichtung des Ordens und das Glasperlenspiel sind, hat ihre Anfänge in einer Geschichtsperiode, welche seit den grundlegenden Untersuchungen des Literarhistorikers Plinius Ziegenhalß den von ihm geprägten Namen »Das feuilletonistische Zeitalter« trägt. Solche Namen sind hübsch, aber gefährlich, und verlocken stets dazu, irgendeinen Zustand des Menschenlebens in der Vergangenheit ungerecht zu betrachten, und so ist denn auch das »feuilletonistische« Zeitalter keineswegs etwa geistlos, ja nicht einmal arm an Geist gewesen. Aber es hat, so scheint es nach Ziegenhalß, mit seinem Geist wenig anzufangen gewußt, oder vielmehr, es hat dem Geist innerhalb der Ökonomie des Lebens und Staates nicht die ihm gemäße Stellung und Funktion anzuweisen gewußt. Offen gestanden, kennen wir jene Epoche sehr schlecht, obwohl sie der Boden ist, aus dem fast alles das gewachsen ist, was heute die Merkmale unsres geistigen Lebens ausmacht. Es war, nach Ziegenhalß, eine in besonderem Maße »bürgerliche« und einem weitgehenden Individualismus huldigende Epoche, und wenn wir, um ihre Atmosphäre anzudeuten, einige Züge nach Ziegenhalß« Darstellung anführen, so wissen wir wenigstens dies eine mit Gewißheit, daß diese Züge nicht erfunden oder wesentlich übertrieben und verzeichnet sind, denn sie sind von dem großen Forscher mit einer Unzahl von literarischen und anderen Dokumenten belegt. Wir schließen uns dem Gelehrten an, der bisher als einziger das »feuilletonistische« Zeitalter einer ernsthaften Untersuchung gewürdigt hat, und wollen dabei nicht vergessen, daß es leicht und töricht ist, über Irrtümer oder Unsitten ferner Zeiten die Nase zu rümpfen.

Die Entwicklung des geistigen Lebens in Europa scheint vom Ausgang des Mittelalters an zwei große Tendenzen gehabt zu haben: die Befreiung des Denkens und Glaubens von jeglicher autoritativen Beeinflussung, also den Kampf des sich souverän und mündig fühlenden Verstandes gegen die Herrschaft der Römischen Kirche und – andrerseits – das heimliche, aber leidenschaftliche Suchen nach einer Legitimierung dieser seiner Freiheit, nach einer neuen, aus ihm selbst kommenden, ihm adäquaten Autorität. Verallgemeinernd kann man wohl sagen: im großen ganzen hat der Geist diesen oft wunderlich widerspruchsvollen Kampf um zwei einander im Prinzip widersprechende Ziele gewonnen. Ob der Gewinn die zahllosen Opfer aufwiege, ob unsre heutige Ordnung des geistigen Lebens vollkommen genug sei und lange genug dauern werde, um alle die Leiden, Krämpfe und Abnormitäten von den Ketzerprozessen und Scheiterhaufen bis zu den Schicksalen der vielen in Wahnsinn oder Selbstmord geendeten »Genies« als sinnvolles Opfer erscheinen zu lassen, ist uns nicht erlaubt zu fragen. Die Geschichte ist geschehen – ob sie gut war, ob sie besser unterblieben wäre, ob wir ihren »Sinn« anerkennen mögen, dies ist ohne Bedeutung. So geschahen denn auch jene Kämpfe um die »Freiheit« des Geistes und haben in eben jener späten, feuilletonistischen Epoche dazu geführt, daß in der Tat der Geist eine unerhörte und ihm selbst nicht mehr erträgliche Freiheit genoß, indem er die kirchliche Bevormundung vollkommen, die staatliche teilweise überwunden, ein echtes, von ihm selbst formuliertes und respektiertes Gesetz, eine echte neue Autorität und Legitimität aber noch immer nicht gefunden hatte. Die Beispiele von Entwürdigung, Käuflichkeit, Selbstaufgabe des Geistes aus jener Zeit, die uns Ziegenhalß erzählt, sind zum Teil denn auch wirklich erstaunlich.

Wir müssen bekennen, daß wir außerstande sind, eine eindeutige Definition jener Erzeugnisse zu geben, nach welchen wir jene Zeit benennen, den »Feuilletons« nämlich. Wie es scheint, wurden sie, als ein besonders beliebter Teil im Stoff der Tagespresse, zu Millionen erzeugt, bildeten die Hauptnahrung der bildungsbedürftigen Leser, berichteten oder vielmehr »plauderten« über tausenderlei Gegenstände des Wissens, und, wie es scheint, machten die klügeren dieser Feuilletonisten sich oft über ihre eigene Arbeit lustig, wenigstens gesteht Ziegenhalß, auf zahlreiche solche Arbeiten gestoßen zu sein, welche er, da sie sonst vollkommen unverständlich wären, geneigt ist, als Selbstpersiflage ihrer Urheber zu deuten. Wohl möglich, daß in diesen industriemäßig erzeugten Artikeln eine Menge von Ironie und Selbstironie aufgebracht wurde, zu deren Verständnis der Schlüssel erst wieder gefunden werden müßte. Die Hersteller dieser Tändeleien gehörten teils den Redaktionen der Zeitungen an, teils waren sie »freie« Schriftsteller, wurden oft sogar Dichter genannt, aber es scheinen auch sehr viele von ihnen dem Gelehrtenstande angehört zu haben, ja Hochschullehrer von Ruf gewesen zu sein. Beliebte Inhalte solcher Aufsätze waren Anekdoten aus dem Leben berühmter Männer und Frauen und deren Briefwechsel, sie hießen etwa »Friedrich Nietzsche und die Frauenmode um 1870« oder »Die Lieblingsspeisen des Komponisten Rossini« oder »Die Rolle des Schoßhundes im Leben großer Kurtisanen« und ähnlich. Ferner liebte man historisierende Betrachtungen über aktuelle Gesprächsstoffe der Wohlhabenden, etwa »Der Traum von der künstlichen Herstellung des Goldes im Lauf der Jahrhunderte« oder »Die Versuche zur chemisch-physikalischen Beeinflussung der Witterung« und hundert ähnliche Dinge. Lesen wir die von Ziegenhalß angeführten Titel solcher Plaudereien, so gilt unsre Befremdung weniger dem Umstande, daß es Menschen gab, welche sie als tägliche Lektüre verschlangen, als vielmehr der Tatsache, daß Autoren von Ruf und Rang und guter Vorbildung diesen Riesenverbrauch an nichtigen Interessantheiten »bedienen« halfen, wie bezeichnenderweise der Ausdruck dafür lautete: der Ausdruck bezeichnet übrigens auch das damalige Verhältnis des Menschen zur Maschine. Zeitweise besonders beliebt waren die Befragungen bekannter Persönlichkeiten über Tagesfragen, welchen Ziegenhalß ein eigenes Kapitel widmet und bei welchen man zum Beispiel namhafte Chemiker oder Klaviervirtuosen sich über Politik, beliebte Schauspieler, Tänzer, Turner, Flieger oder auch Dichter sich über Nutzen und Nachteile des Junggesellentums, über die mutmaßlichen Ursachen von Finanzkrisen und so weiter äußern ließ. Es kam dabei einzig darauf an, einen bekannten Namen mit einem gerade aktuellen Thema zusammenzubringen: man lese bei Ziegenhalß die zum Teil frappanten Beispiele nach, er führt Hunderte an. Wie gesagt, war vermutlich dieser ganzen Betriebsamkeit ein gutes Teil Ironie beigemischt, vielleicht war es sogar eine dämonische, eine verzweifelte Ironie, wir können uns da nur sehr schwer hineindenken; von der großen Menge aber, welche damals auffallend leselustig gewesen zu sein scheint, sind alle diese grotesken Dinge ohne Zweifel mit gutgläubigem Ernst hingenommen worden. Wechselte ein berühmtes Gemälde den Besitzer, wurde eine weitvolle Handschrift versteigert, brannte ein altes Schloß ab, fand sich der Träger eines altadligen Namens in einen Skandal verwickelt, so erfuhren die Leser in vielen tausend Feuilletons nicht etwa nur diese Tatsachen, sondern bekamen schon am selben oder doch am nächsten Tage auch noch eine Menge von anekdotischem, historischem, psychologischem, erotischem und anderem Material über das jeweilige Stichwort, über jedes Tagesereignis ergoß sich eine Flut von eifrigem Geschreibe, und die Beibringung, Sichtung und Formulierung all dieser Mitteilungen trug durchaus den Stempel der rasch und verantwortungslos hergestellten Massenware. Übrigens gehörten, so scheint es, zum Feuilleton auch gewisse Spiele, zu welchen die Leserschaft selbst angeregt und durch welche ihre Überfütterung mit Wissensstoff aktiviert wurde, eine lange Anmerkung von Ziegenhalß über das wunderliche Thema »Kreuzworträtsel« berichtet davon. Es saßen damals Tausende und Tausende von Menschen, welche zum größern Teil schwere Arbeit taten und ein schweres Leben lebten, in ihren Freistunden über Quadrate und Kreuze aus Buchstaben gebückt, deren Lücken sie nach gewissen Spielregeln ausfüllten. Wir wollen uns hüten, bloß den lächerlichen oder verrückten Aspekt davon zu sehen, und wollen uns des Spottes darüber enthalten. Jene Menschen mit ihren Kinder-Rätselspielen und ihren Bildungsaufsätzen waren nämlich keineswegs harmlose Kinder oder spielerische Phäaken, sie saßen vielmehr angstvoll inmitten politischer, wirtschaftlicher und moralischer Gärungen und Erdbeben, haben eine Anzahl von schauerlichen Kriegen und Bürgerkriegen geführt, und ihre kleinen Bildungsspiele waren nicht bloß holde sinnlose Kinderei, sondern entsprachen einem tiefen Bedürfnis, die Augen zu schließen und sich vor ungelösten Problemen und angstvollen Untergangsahnungen in eine möglichst harmlose Scheinwelt zu flüchten. Sie lernten mit Ausdauer das Lenken von Automobilen, das Spielen schwieriger Kartenspiele und widmeten sich träumerisch dem Auflösen von Kreuzworträtseln – denn sie standen dem Tode, der Angst, dem Schmerz, dem Hunger beinahe schutzlos gegenüber, von den Kirchen nicht mehr tröstbar, vom Geist unberaten. Sie, die so viele Aufsätze lasen und Vorträge hörten, sie gönnten sich die Zeit und Mühe nicht, sich gegen die Furcht stark zu machen, die Angst vor dem Tode in sich zu bekämpfen, sie lebten zuckend dahin und glaubten an kein Morgen.