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Das Spiel wurde von beinahe allen Wissenschaften zeitweise übernommen und nachgeahmt, das heißt auf ihr Gebiet angewendet, bezeugt ist dies für die Gebiete der klassischen Philologie und der Logik. Die analytische Betrachtung der Musikwerte hatte dazu geführt, daß man musikalische Abläufe in physikalisch-mathematische Formeln einfing. Wenig später begann die Philologie mit dieser Methode zu arbeiten und sprachliche Gebilde nach der Weise auszumessen, wie die Physik Naturvorgänge maß; es schloß die Untersuchung der bildenden Künste sich an, wo von der Architektur her die Beziehung zur Mathematik schon längst vorhanden war. Und nun entdeckte man zwischen den auf diesem Wege gewonnenen abstrakten Formeln immer neue Beziehungen, Analogien und Entsprechungen. Jede Wissenschaft, die sich des Spiels bemächtigte, schuf sich zu diesem Zweck eine Spiel-Sprache von Formeln, Abbreviaturen und Kombinationsmöglichkeiten, überall unter der Elite der geistigen Jugend waren die Spiele mit den Formelfolgen und Formeldialogen beliebt. Das Spiel war nicht bloß Übung und nicht bloß Erholung, es war konzentriertes Selbstgefühl einer Geisteszucht, besonders die Mathematiker betrieben es mit einer zugleich asketischen und sportsmännischen Virtuosität und formalen Strenge, und fanden darin einen Genuß, der ihnen den damals schon konsequent durchgeführten Verzicht der Geistigen auf weltliche Genüsse und Bestrebungen erleichtern half. An der völligen Oberwindung des Feuilletons und an jener neu erwachten Freude an den exaktesten Übungen des Geistes, der wir die Entstehung einer neuen Geisteszucht von mönchischer Strenge verdanken, hatte das Glasperlenspiel großen Anteil. Die Welt hatte sich verändert. Man könnte das Geistesleben der Feuilletonepoche mit einer entarteten Pflanze vergleichen, die sich in hypertrophischen Wucherungen vergeudet, und die nachfolgenden Korrekturen mit einem Zurückschneiden der Pflanze bis auf die Wurzeln. Die jungen Menschen, welche jetzt sich geistigen Studien widmen wollten, verstanden darunter nicht mehr ein Herumnaschen an den Hochschulen, wo ihnen von berühmten und redseligen Professoren ohne Autorität die Reste der einstigen höheren Bildung dargereicht wurden: sie mußten jetzt ebenso streng und noch strenger und methodischer lernen, als es einst die Ingenieure an den Polytechniken gemußt hatten. Sie hatten einen steilen Weg zu gehen, mußten an der Mathematik und an aristotelisch-scholastischen Übungen ihr Denkvermögen reinigen und steigern und mußten außerdem auf alle die Güter vollkommen verzichten lernen, welche vorher einer Reihe von Gelehrtengenerationen als erstrebenswert gegolten hatten: auf raschen und leichten Gelderwerb, auf Ruhm und Ehrungen in der Öffentlichkeit, auf das Lob der Zeitungen, auf Ehen mit den Töchtern der Bankiers und Fabrikanten, auf Verwöhnung und Luxus im materiellen Leben. Die Dichter mit den hohen Auflagen, den Nobelpreisen und hübschen Landhäusern, die großen Mediziner mit den Orden und den Livreedienern, die Akademiker mit den reichen Gattinnen und den glänzenden Salons, die Chemiker mit den Aufsichtsratsstellen in der Industrie, die Philosophen mit den Feuilletonfabriken und den hinreißenden Vorträgen in überfüllten Sälen mit Applaus und Blumenspenden – alle diese Figuren waren verschwunden und sind bis heute nicht wiedergekommen. Wohl gab es auch jetzt noch begabte junge Leute in Menge, welchen jene Figuren beneidete Vorbilder waren, aber die Wege zur öffentlichen Ehrung, zum Reichtum, Ruhm und Luxus führten jetzt nicht mehr durch die Hörsäle, Seminare und Doktorarbeiten, die tief gesunkenen geistigen Berufe hatten in den Augen der Welt Bankrott gemacht und hatten sich dafür eine büßerisch-fanatische Hingabe an den Geist wieder erobert. Jene Talente, welche mehr nach Glanz oder Wohlleben strebten, mußten der unliebenswürdig gewordenen Geistigkeit den Rücken kehren und jene Berufe aufsuchen, welchen das Wohlergehen und Geldverdienen überlassen worden war.

Es würde zu weit führen, wenn wir des näheren schildern wollten, in welcher Weise der Geist sich nach seiner Reinigung auch im Staate durchsetzte. Es wurde bald die Erfahrung gemacht, daß wenige Generationen einer laxen und gewissenlosen Geisteszucht genügt hatten, auch das praktische Leben ganz empfindlich zu schädigen, daß Können und Verantwortlichkeit in allen höheren Berufen, auch den technischen, immer seltener wurden, und so wurde die Pflege des Geistes in Staat und Volk, namentlich das ganze Schulwesen, von den Geistigen mehr und mehr monopolisiert, wie ja auch heute noch in fast allen Ländern Europas die Schule, soweit sie nicht unter der Kontrolle der Römischen Kirche blieb, in den Händen jener anonymen Orden ist, die sich aus der Elite der Geistigen rekrutieren. So unbequem zuweilen der öffentlichen Meinung die Strenge und der sogenannte Hochmut dieser Kaste sein mögen, sooft einzelne gegen sie revoltiert haben – diese Leitung steht noch unerschüttert, es hält und schützt sie nicht nur ihre Integrität, ihr Verzicht auf andre Güter und Vorteile als geistige, sondern es schützt sie auch das längst allgemein gewordene Wissen oder Ahnen um die Notwendigkeit dieser strengen Schule für den Fortbestand der Zivilisation. Man weiß oder ahnt: wenn das Denken nicht rein und wach und die Verehrung des Geistes nicht mehr gültig ist, dann gehen bald auch die Schiffe und Automobile nicht mehr richtig, dann wackelt für den Rechenschieber des Ingenieurs wie für die Mathematik der Bank und Börse alle Gültigkeit und Autorität, dann kommt das Chaos. Es dauerte immerhin lange genug, bis die Erkenntnis sich Bahn brach, daß auch die Außenseite der Zivilisation, auch die Technik, die Industrie, der Handel und so weiter der gemeinsamen Grundlage einer geistigen Moral und Redlichkeit bedürfen.

Was nun dem Glasperlenspiel zu jener Zeit noch fehlte, das war die Fähigkeit zur Universalität, das Schweben über den Fakultäten. Es trieben die Astronomen, die Griechen, die Lateiner, die Scholastiker, die Musikstudenten ihre geistvoll geregelten Spiele, aber das Spiel hatte für jede Fakultät, jede Disziplin und ihre Abzweigungen eine eigene Sprache und Regelwelt. Es dauerte ein halbes Jahrhundert, bis der erste Schritt zur Überbrückung dieser Grenzen geschah. Die Ursache dieser Langsamkeit war ohne Zweifel mehr eine moralische als eine formale und technische: die Mittel zur Überbrückung wären schon zu finden gewesen, aber mit der ganzen strengen Moral der neu erstandenen Geistigkeit hing eine puritanische Scheu vor »Allotria,« vor Vermischung der Disziplinen und Kategorien zusammen, eine tiefe und wohlberechtigte Scheu vor dem Rückfall in die Sünde der Spielerei und des Feuilletons.

Es war die Tat eines einzelnen, die nun das Glasperlenspiel beinahe mit einem einzigen Schritt zum Bewußtsein seiner Möglichkeiten und damit an die Schwelle der universalen Ausbildungsfähigkeit brachte, und wieder war es die Verbindung mit der Musik, welche dem Spiel diesen Fortschritt brachte. Ein Schweizer Musikgelehrter, zugleich fanatischer Liebhaber der Mathematik, gab dem Spiel eine neue Wendung und damit die Möglichkeit zur höchsten Entfaltung. Der bürgerliche Name dieses großen Mannes ist nicht mehr zu ermitteln, seine Zeit kannte den Kultus der Person auf den geistigen Gebieten schon nicht mehr, in der Geschichte lebt er als Lusor (auch: Joculator) Basiliensis fort. Seine Erfindung, wie jede Erfindung, war zwar durchaus seine persönliche Leistung und Gnade, kam aber keineswegs nur aus einem privaten Bedürfnis und Streben, sondern war von einem stärkeren Motor getrieben. Unter den Geistigen seiner Zeit war überall ein leidenschaftliches Verlangen nach einer Ausdrucksmöglichkeit für ihre neuen Denkinhalte lebendig, man sehnte sich nach Philosophie, nach Synthese, man empfand das bisherige Glück der reinen Zurückgezogenheit auf seine Disziplin als unzulänglich, da und dort durchbrach ein Gelehrter die Schranken der Fachwissenschaft und versuchte ins Allgemeine vorzustoßen, man träumte von einem neuen Alphabet, einer neuen Zeichensprache, in welcher es möglich würde, die neuen geistigen Erlebnisse festzuhalten und auszutauschen. Zeugnis davon gibt mit besonderer Eindringlichkeit die Schrift eines Pariser Gelehrten jener Jahre mit dem Titel »Chinesischer Mahnruf.« Der Urheber dieser Schrift, zu seiner Zeit von vielen als eine Art Don Quichotte bespöttelt, übrigens ein angesehener Gelehrter auf seinem Gebiete, der chinesischen Philologie, setzt auseinander, welchen Gefahren die Wissenschaft und Geistespflege trotz ihrer braven Haltung entgegengehe, wenn sie darauf verzichte, eine internationale Zeichensprache auszubauen, welche ähnlich der alten chinesischen Schrift es erlaube, das Komplizierteste ohne Ausschaltung der persönlichen Phantasie und Erfinderkraft in einer Weise graphisch auszudrücken, welche allen Gelehrten der Welt verständlich wäre. Den wichtigsten Schritt nun zur Erfüllung dieser Forderung hat der Joculator Basiliensis getan. Er erfand für das Glasperlenspiel die Grundsätze einer neuen Sprache, nämlich einer Zeichen- und Formelsprache, an welcher die Mathematik und die Musik gleichen Anteil hatten, in welcher es möglich wurde, astronomische und musikalische Formeln zu verbinden, Mathematik und Musik gleichsam auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Wenn auch die Entwicklung damit keineswegs abgeschlossen war, den Grund zu allem Späteren in der Geschichte unseres teuren Spieles hat damals der Basler Unbekannte gelegt.

Das Glasperlenspiel, einst die Spezialunterhaltung bald der Mathematiker, bald der Philologen oder Musiker, zog nun mehr und mehr alle wahrhaft Geistigen in seinen Bann. Manche alte Akademie, manche Loge und besonders der uralte Bund der Morgenlandfahrer wendeten sich ihm zu. Auch einige der katholischen Orden witterten hier eine neue Geistesluft und ließen sich von ihr entzücken, namentlich wurde in einigen Benediktinerabteien dem Spiele so viel Teilnahme gewidmet, daß schon damals die auch später gelegentlich wieder auftauchende Frage akut wurde, ob eigentlich dieses Spiel von Kirche und Kurie geduldet, unterstützt oder verboten werden müsse.

Seit der Großtat des Baslers nun hat das Spiel sich rasch vollends zu dem entwickelt, was es noch heute ist: zum Inbegriff des Geistigen und Musischen, zum sublimen Kult, zur Unio Mystica aller getrennten Glieder der Universitas Litterarum. Es hat in unsrem Leben teils die Rolle der Kunst, teils die der spekulativen Philosophie übernommen und wurde zum Beispiel zur Zeit des Plinius Ziegenhalß nicht selten auch mit einem Ausdruck bezeichnet, welcher noch aus der Dichtung der feuilletonistischen Epoche stammt und für diese Epoche das Sehnsuchtsziel manches vorahnenden Geistes benannte, mit dem Ausdruck: magisches Theater.

War nun das Glasperlenspiel seit seinen Anfängen an Technik und an Umfang der Stoffe ins Unendliche gewachsen und, was die geistigen Ansprüche an die Spieler betrifft, zu einer hohen Kunst und Wissenschaft geworden, so fehlte ihm in den Zeiten des Baslers doch noch etwas Wesentliches. Bis dahin nämlich war jedes Spiel ein Aneinanderreihen, Ordnen, Gruppieren und Gegeneinanderstellen von konzentrierten Vorstellungen aus vielen Gebieten des Denkens und des Schönen gewesen, ein rasches Sicherinnern an überzeitliche Werte und Formen, ein virtuoser kurzer Flug durch die Reiche des Geistes. Erst wesentlich später kam allmählich aus dem geistigen Inventar des Erziehungswesens, und namentlich aus den Gewohnheiten und Bräuchen der Morgenlandfahrer, auch der Begriff der Kontemplation in das Spiel. Es hatte sich der Übelstand bemerkbar gemacht, daß Gedächtniskünstler ohne andre Tugenden virtuose und blendende Spiele spielen und die Teilnehmer durch das rasche Nacheinander zahlloser Vorstellungen verblüffen und verwirren konnten. Nun fiel allmählich dieses Virtuosentum mehr und mehr unter strenges Verbot, und die Kontemplation wurde zu einem sehr wichtigen Bestandteil des Spieles, ja sie wurde für die Zuschauer und Zuhörer jedes Spieles zur Hauptsache. Es war dies die Wendung gegen das Religiöse. Es kam nicht mehr allein darauf an, den Ideenfolgen und dem ganzen geistigen Mosaik eines Spieles mit rascher Aufmerksamkeit und geübtem Gedächtnis intellektuell zu folgen, sondern es entstand die Forderung nach einer tiefern und seelischeren Hingabe. Nach jedem Zeichen nämlich, das der jeweilige Spielleiter beschworen hatte, wurde nun über dies Zeichen, über seinen Gehalt, seine Herkunft, seinen Sinn eine stille strenge Betrachtung abgehalten, welche jeden Mitspieler zwang, sich die Inhalte des Zeichens intensiv und organisch gegenwärtig zu machen. Die Technik und Übung der Kontemplation brachten alle Mitglieder des Ordens und der Spielbünde aus den Eliteschulen mit, wo der Kunst des Kontemplierens und Meditierens die größte Sorgfalt gewidmet wurde. Dadurch wurden die Hieroglyphen des Spiels davor bewahrt, zu bloßen Buchstaben zu entarten.