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»Sir John, hier stimmt etwas nicht! Es ist so still.«

Cranston grinste. »Hast du’s noch nicht gemerkt, Bruder? Sieh hinunter: Der Fluß ist zugefroren.«

Athelstan starrte ungläubig über das Brückengeländer. Sonst rauschte und brodelte unten das Wasser. Jetzt hatte sich der Fluß, soweit das Auge reichte, in ein weißes Eisfeld verwandelt. Athelstan reckte den Kopf und hörte die Schreie der Kinder, die sich die Schienbeine eines Ochsen unter die Füße gebunden hatten und dort Schlittschuh liefen. Jemand hatte einen Stand eröffnet, und Athelstans Magen meldete sich unüberhörbar, als ihm der aromatische Duft heißer Rindspastete in die Nase stieg. Sie ritten weiter, vorbei an der St.-Thomas-Kapelle und auf die Bridge Street, nach Billingsgate hinein und dann die Botolph’s Lane hinauf nach Eastcheap. Die Stadt lag wie unter dem Zauberbann einer Eishexe. Nur wenige Läden waren offen, und das gewohnte Geschrei von Lehrjungen und Händlern war unter dem Klammergriff des Winters verstummt. An einem Pastetenladen machten sie halt. Athelstan kaufte sich eine heiße Hackfleischpastete, biß kräftig hinein und genoß den Saft, der herausquoll, und den köstlichen Duft der frischgebackenen Teighülle und des scharfgewürzten Fleisches. Cranston sah ihm zu. »Das schmeckt dir, Bruder?«

»Ja, Herr. Warum eßt Ihr nicht auch?«

Cranston lächelte boshaft. »Das würde ich gerne tun«, antwortete er. »Aber hast du nicht etwas vergessen, Bruder? Wir haben Advent. Da soll man sich des Fleisches enthalten.«

Athelstan schaute sehnsüchtig auf die halbverzehrte Pastete; dann grinste er, aß sie auf und leckte sich die Finger ab. Cranston schüttelte den Kopf.

»Was soll aus uns werden?« klagte er scherzhaft. »Wenn schon die Ordensbrüder das Kirchenrecht ignorieren?«

Athelstan beugte sich vor.

»Ihr irrt Euch, Sir John. Heute ist der dreizehnte Dezember, ein heiliger Tag: das Fest der heiligen Lucia, Jungfrau und Märtyrerin. Also darf ich Fleisch essen.« Er machte ein Kreuzzeichen in die Luft. »Und Ihr dürft doppelt soviel Rotwein trinken wie sonst.« Der Ordensbruder raffle die Zügel seines Pferdes. »Also, Sir John - was führt uns in den Tower?«

Cranston trieb sein Pferd zur Seite, als ein breiträdriger Karren, mit sauren grünen Äpfeln beladen, vorüberrumpelte.

»Sir Ralph Witton, der Konstabler des Tower. Du hast von ihm gehört?«

Athelstan nickte. »Wer nicht? Er ist ein grausamer Soldat, ein tapferer Kreuzritter und ein persönlicher Freund des Regenten, John von Gaunt.«

»Er war es«, verbesserte Cranston. »Heute früh wurde Whitton in seinem Gemach in der nördlichen Bastion des Tower gefunden. Seine Kehle war von einem Ohr zum anderen durchgeschnitten, und auf der Brust war mehr Blut als bei einem abgestochenen Schwein.«

»Irgendeine Spur vom Mörder oder der Waffe?«

Cranston schüttelte den Kopf und blies sich auf die blaugefrorenen Finger. »Nichts«, knirschte er. »Whitton hatte eine Tochter. Philippa. Sie ist verlobt mit Geoffrey Parchmeiner. Anscheinend mochte Sir Ralph den jungen Mann und vertraute ihm. Heute morgen wollte Geoffrey seinen künftigen Schwiegervater wecken und fand ihn ermordet.« Er holte tief Luft. »Und was noch merkwürdiger ist: Sir Ralph vermutete, daß jemand ihm ans Leben wollte. Vier Tage vor seinem Tod bekam er eine schriftliche Warnung.«

»Was stand darin?«

»Das weiß ich nicht, aber anscheinend bekam der Konstabler es mit der Angst zu tun. Er verließ seine gewohnten Gemächer im Turm des White Tower und zog aus Sicherheitsgründen in die Nordbastion. Die Treppe zu seiner Kammer wurde von zwei Gefolgsleuten seines Vertrauens bewacht. Die Tür zwischen Treppe und dem Gang war abgeschlossen. Sir Ralph hatte den einen Schlüssel, die Wachen den anderen. Für Sir Ralphs Kammer gilt das gleiche. Er hatte sie von innen verschlossen, und die beiden Wachposten hatten den anderen Schlüssel.« Cranston lehnte sich plötzlich herüber, packte Philomels Zaumzeug und riß das Pferd zur Seite. Im selben Augenblick rutschte ein dicker Schneeklumpen vom Dach und krachte auf das Eis. »Wir sollten machen, daß wir weiterkommen«, bemerkte der Ordensbruder trocken. »Sonst habt Ihr vielleicht noch einen Toten am Halse, Sir John, und dann seid Ihr der Verdächtige.«

Cranston rülpste und nahm einen großen Schluck aus seinem Weinschlauch.

»Steht der junge Geoffrey unter Verdacht?« erkundigte sich Athelstan.

Cranston schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Beide Türen waren noch abgeschlossen; die Wachen schlossen eine auf, ließen ihn durch und schlossen hinter ihm wieder zu. Anscheinend ging Geoffrey den Gang hinunter zu Sir Ralphs Tür, klopfte an und versuchte, ihn zu wecken. Das gelang ihm nicht, und er holte die Wachen, die ihm aufschlossen. Sie fanden den Konstabler mit durchgeschnittener Kehle auf dem Bett, und die Holzläden vor dem Fenster standen weit offen.« Cranston räusperte sich, und dann wandte er sich ab und spuckte aus. »Noch etwas: Die Wachen haben niemanden ohne rigorose Leibesvisitation vorbeigelassen, auch nicht den jungen Geoffrey. Man fand keinen Dolch bei ihm, und auch in der Kammer war kein Messer.«

»Wovor hatte Sir Ralph solche Angst?«

Cranston schüttelte den Kopf. »Das weiß der Himmel. Aber es gibt eine ordentliche Ansammlung von Verdächtigen. Sein Vertreter, Gilbert Colebrooke, stand mit ihm auf Kriegsfuß und wollte seinen Posten haben. Dann ist da der Kaplan, William Hammond, den Sir Ralph dabei ertappt hat, wie er Lebensmittel aus den Vorräten des Tower verkaufte. Zwei Freunde von Sir Ralph, Hospitaliterritter, waren wie üblich gekommen, um das Weihnachtsfest mit ihm zu verbringen. Und dann ist da noch ein Heide, ein stummer Diener, ein Sarazene, den Sir Ralph vom Kreuzzug aus Outremer mitgebracht hat.«

Athelstan zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht, denn der kalte Wind biß ihm in die Ohren. »Cui bono?«fragte er.

»Was heißt das?«

»Ciceros berühmte Frage: Wer hat etwas davon?«

Cranston schürzte die Lippen. »Eine gute Frage, mein lieber Bruder. Sie führt uns zu Sir Ralphs Bruder, Sir Fulke Whitton. Der wird ein gut Teil vom Vermögen seines Bruders erben.« Cranston verstummte und rülpste leise mit halbgeschlossenen Augen. Athelstan rühmte sich, den dicken Coroner so gut zu kennen wie seine eigene Handfläche.

»Aber, Sir John«, bohrte er, »da ist doch noch mehr, oder?« Cranston klappte die Augen auf. »Selbstverständlich. Whitton war nicht beliebt, weder bei Hofe noch bei den Londonern, und auch nicht bei den Bauern.«

Athelstan war bestürzt. Auf diesen Pfaden waren sie schon öfter gewandelt.

»Ihr meint, dahinter steckt vielleicht die Große Gemeinde?« Cranston nickte. »Könnte sein. Und denke daran, Bruder: Auch einige deiner Pfarrkinder könnten dazugehören. Wenn die Große Gemeinde handelt und die Revolte sich ausbreitet, dann werden die Rebellen versuchen, den Tower zu erobern. Wer ihn beherrscht, beherrscht den Fluß, die Stadt, Westminster und die Krone.«

Athelstan zog die Zügel an und überdachte Cranstons Worte. Es stand nicht gut um London. Der König war ein Kind, sein Onkel John von Gaunt ein höchst unpopulärer Regent. Der Hof war verlottert, aber den Bauern wurden endlos Steuern abgepreßt, und sie waren durch grausame Gesetze an ihre Scholle gebunden. Schon seit einer Weile gab es Gemunkel, Gerüchte, die wie Blätter im Wind trieben: Bauern in Kent, Middlesex und Essex hätten eine Geheimgesellschaft gegründet, die »Große Gemeinde«. Deren Führer planten angeblich den Aufstand und den Marsch nach London. Athelstan kannte sogar einen der Anführer flüchtig - John Ball, ein Wanderpriester und Mann von solcher Beredsamkeit, daß er mit Sätzen wie: »Als Adam pflügt’ und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?« noch die friedfertigsten Bauern in Rebellen verwandeln konnte. War Whittons Tod das Vorspiel zum Drama, fragte sich Athelstan. Und waren seine Pfarrkinder beteiligt? Er wußte, daß sie sich in den Ale-Häusern und Schankstuben trafen und weiß Gott berechtigte Klagen zu führen hatten.