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Und wenn der Aufstand käme, was sollte er dann tun? Sich auf die Seite der Behörden stellen oder sich, wie viele Priester, den Rebellen anschließen? Er warf Cranston einen Seitenblick zu. Der Coroner schien seinen Gedanken nachzuhängen; wieder spürte der Ordensbruder die Traurigkeit, die ihn umgab.

»Sir John, fehlt Euch etwas?«

»Nein, nein«, murmelte der Coroner.

Athelstan ließ ihn in Ruhe. Vielleicht, überlegte er, hatte Sir John am letzten Abend zu tief ins Glas geschaut.

Sie ritten die verschneite Tower Street herunter, vorbei an der Kirche, vor der ein Almosenempfänger kniete und für irgendeine Sünde Buße tat; seine Hände, die den Rosenkranz umklammerten, waren hart vom Frost. Athelstan grauste es bei dem Gedanken an die Bußen, die manche seiner Brüder im Priesteramt ihren Gemeindekindern auferlegten. Sir Johns Atem hing wie Weihrauch in der kalten Luft.

»In drei Teufels Namen«, murrte er. »Wann kommt endlich die Sonne wieder?«

Sie waren in Petty Wales angelangt, als plötzlich eine Frauenstimme klar und melodisch ein Weihnachtslied zu singen begann, das Athelstan besonders mochte. Sie blieben einen Augenblick stehen, um zuzuhören, und überquerten dann den eisglatten Platz. Vor ihnen ragten die schneebedeckten Mauern des Tower empor, die Türme, Bastionen, Bollwerke und Zinnen - ein Berg aus behauenem Stein. Die gewaltige Festung schien London weniger zu verteidigen als einzuschüchtern. »Ein bedrückender Ort«, sagte Cranston leise. »Das Haus des Roten Schlächters.« Er warf Athelstan einen eigenartigen Blick zu. »Unsere alten Freunde Mord und Totschlag lauern hier.« Athelstan überlief ein Schauer, nicht nur wegen der Kälte. Sie überquerten die Zugbrücke. Der Graben unter ihnen, das Wasser und auch der grüne Schleim, der es stets bedeckte, waren gefroren. Sie ritten durch den schwarzen Torbogen des Middle Tower. Das große Tor klaffte wie ein aufgerissenes Maul, und das halb herabgelassene Fallgitter waren die Zähne. Von oben grinsten die abgeschlagenen Köpfe zweier im Kanal gefaßter Piraten herunter. Athelstan flüsterte ein Gebet. »Gott schütze uns vor allen Teufeln, Dämonen, Skorpionen und den bösen Geistern, die hier hausen.«

»Gott schütze mich vor den Lebenden«, witzelte Cranston zurück. »Ich fürchte, sogar Satan weint über das Böse, dessen die Menschen fähig sind.« Das Tor war von Soldaten bewacht, die, in braune Wollmäntel gehüllt, unter dem engen Torgewölbe standen.

»Sir John Cranston, der Coroner!« verkündete Cranston mit dröhnender Stimme. »Ich habe die Vollmacht des Königs. Und dies ist mein Schreiber, Bruder Athelstan, der seiner unbestreitbaren Sünden wegen auch Pfarrer von St. Erconwald in Southwark ist. An einem Ort also«, fuhr der Coroner grinsend fort, als er die Empörung in Athelstans Gesicht sah, »wo Tugend und Laster sich aneinander reiben und die Hände schütteln.«

Die Wachen nickten; in der durchdringenden Kälte war jede Bewegung zuviel. Athelstan und Cranston ritten am Byward Tower vorbei und einen gepflasterten Damm hinauf; ihre Pferde rutschten und stolperten auf den eisigen Steinen. Am Wakefield Tower wandten sie sich nach links, und durch einen konzentrischen Kreis von Befestigungsanlagen gelangten sie auf das Tower Green, eine Wiese, die jetzt von dickem Schnee bedeckt war. Auch die großen Kriegsmaschinen waren davon verhüllt: Katapulte, Rammböcke, Steinschleudern und schwere, eisenbeschlagene Karren. Rechts stand eine mächtige, aus Fachwerk erbaute Große Halle, an die weitere Gemächer angebaut waren. Ein Wachposten saß dösend auf der Treppe und blickte nicht einmal auf, als Cranston brüllte. Ein schniefender, rotnasiger Pferdeknecht kam schließlich gerannt und nahm ihnen die Pferde ab. Ein anderer führte sie die Treppe hinauf in die Große Halle. Zwei struppige Jagdhunde schnüffelten in der schmutzstarrenden Binsenstreu am Boden. Einer von ihnen wollte das Bein an Sir Johns Stiefeln heben und knurrte, als der Coroner nach ihm trat.

Die Halle war ein großer, düsterer Raum mit schmutzigem Steinboden und wuchtigen Deckenbalken. Ein Kamin am hinteren Ende war groß genug, um einen Ochsen zu braten. Auf dem Feuerrost türmten sich die Scheite, aber der Kamin war offenbar verrußt, denn der Rauch wurde zum Teil in die Halle zurückgedrückt, wo er wie Nebel unter den Deckenbalken wirbelte. Die Frühmahlzeit war gerade zu Ende; Küchenjungen räumten Zinnbecher und hölzerne Teller von den Tischen. In einer Ecke foppten zwei Männer einen Dachs mit einem Hund; andere drängten sich ans Feuer. Athelstan schaute sich um. Das Leichentuch des Todes lag schwer über dem Saal. Er kannte den Gestank, das Mißtrauen und das unausgesprochene Grauen, das stets auf einen gewalttätigen, geheimnisvollen Mord folgte. Eine der Gestalten am Feuer erhob sich und kam eilig herüber, als Cranston zum zweiten Mal seinen Titel durch die Halle brüllte. Es war ein langer, dünner Kerl mit roten Haaren; seine Augenlider waren rosig und wimpernlos. Eine Adlernase beherrschte das halbrasierte, eckige Gesicht.

»Ich bin Gilbert Colebrooke, der Lieutenant. Sir John, Ihr seid höchst willkommen.« Seine trüben Augen richteten sich auf Athelstan.

»Mein Schreiber«, verkündete Cranston. Dann deutete er auf die Gruppe am Feuer. »Der Haushalt des Konstablers, nehme ich an?«

»Jawohl«, antworte Colebrooke knapp.

»Ja, Mann, dann macht uns bekannt!«

Als sie hinübergingen, standen die Leute, die auf Schemeln am Feuer hockten, auf und begrüßten sie. Man wurde einander vorgestellt, und Cranston beherrschte unweigerlich das Geschehen. Wie immer hielt Athelstan sich zurück und studierte die Leute, die er bald befragen würde. Er würde ihre Geheimnisse ausgraben, vielleicht sogar Skandale aufdecken, die besser verborgen geblieben wären. Da war der Kaplan, Master William Hammond, mager und ernst in seinem schwarzen Gewand. Seine Bewegungen waren wie die eines angreifenden Vogels, sein Gesicht sah ungesund aus, und fettige graue Haarsträhnen zogen sich schütter über den kahlen Schädel. Ein bitterer Mann, schloß Athelstan, mit einer Nase, so spitz wie ein Dolch, kleinen schwarzen Äuglein und einem schmallippigen Mund, so fest verschlossen wie die Börse eines Geizkragens. Zur Rechten des Kaplans stand Sir Fulke Whitton, der Bruder des Toten: glatt und fett, mit freundlichem Gesicht und strohblondem Haar. Sein Händedruck war fest, und er bewegte sich trotz seines beträchtlichen Leibesumfangs mit der Anmut und Geschwindigkeit eines Athleten.

Neben ihm stand die Tochter des toten Konstablers, Philippa. Keine große Schönheit mit ihrem breiten Gesicht, aber sie hatte angenehme braune Augen und hübsches, kastanienbraunes Haar. Sie war ziemlich rundlich und erinnerte Athelstan an einen übermästeten Kapaun. An ihrer Seite stand - oder besser: schwankte - ihr Verlobter Geoffrey Parchmeiner. Sein Haar war schwarz wie die Nacht und geölt und frisiert wie das einer Frau. Er schien ein ganz angenehmer Bursche zu sein; seine Gesichtszüge wirkten kraftvoll, auch wenn sein glattrasiertes Gesicht leicht gerötet war vom blutroten Wein, den er in einem tiefen Becher kreisen ließ. Ein heiterer Bursche, dachte Athelstan, und belustigt schaute er auf Geoffreys enge Hose mit dem vorgewölbten Hosenlatz. Unter einem sarazenischen Wams schaute ein rüschenbesetztes Hemd hervor, und die Spitzen seiner Schuhe waren so lang und dünn, daß sie mit einer roten Kordel an der Wade festgebunden waren. Weiß Gott, wie der sich auf Eis fortbewegt, dachte Athelstan. Er kannte diesen Typus: ein junger Mann, der die Gecken des Hofes nachäffte. Als Pergamenthändler mit einem Laden in Londons Straßen würde Geoffrey Geld genug haben, um sich aufzuführen wie ein Höfling.

Die beiden Hospitaliterritter, von denen Cranston gesprochen hatte, Sir Gérard Mowbray und Sir Brian Fitzormonde, hätten Brüder sein können. Beide trugen das graue Gewand ihres Ordens. Auf den Mänteln prangten dicke, weiße Kreuze. Athelstan kannte den furchterregenden Ruf dieser Mönchsritter und war gelegentlich sogar als Beichtvater in ihrer Festung in Clerkenwell gewesen. Gérard und Brian waren mittleren Alters und, mit ihren sauber getrimmten Bärten, scharfen Augen und kurzgeschorenen Haaren, Soldaten vom Scheitel bis zur Sohle. Sie bewegten sich wie Katzen, Männer im Bewußtsein ihrer Überlegenheit. Krieger, dachte Athelstan, Männer, die töteten, wenn sie ihre Sache für gerecht hielten.