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4

Zwei Wochen später war Kalisha an der Reihe, wobei sie nicht vom Busbahnhof in Brunswick starten würde, sondern von dem in Greenville. Spät am folgenden Tag würde sie in Chicago eintreffen und ihre in Houston lebende Schwester vom Navy Pier aus anrufen. Wendy hatte ihr ein perlenbesticktes Handtäschchen geschenkt. Darin befanden sich siebzig Dollar und eine Telefonkarte. Ein Schlüssel, exakt wie der von Nicky, lag in einem ihrer Sneakers. Das Geld und die Telefonkarte konnten gestohlen werden, der Schlüssel nicht.

Sie umarmte Tim mit aller Kraft. »Das reicht nicht aus, dir für das zu danken, was du getan hast, aber sonst hab ich nichts.«

»Klar reicht das aus«, sagte Tim.

»Ich hoffe bloß, dass die Welt nicht wegen uns untergeht.«

»Und ich sag’s dir ein allerletztes Mal, Sha – wenn jemand den großen roten Knopf drückt, wirst das nicht du sein.«

Sie lächelte schwach. »Als wir am Ende zusammen waren, hatten wir den größten aller roten Knöpfe, und es hat sich gut angefühlt, den zu drücken. Das geht mir nach. Wie gut es sich angefühlt hat.«

»Aber das ist vorbei.«

»Ja. Alles, was wir hatten, löst sich auf, und ich bin froh darüber. Niemand sollte eine solche Kraft haben, vor allem Kinder nicht.«

Tim dachte, dass manche von den Leuten, die tatsächlich den großen roten Knopf drücken konnten, im Grunde Kinder waren, nicht körperlich, sondern mental. Doch das sagte er nicht. Kalisha stand vor einer ebenso unbekannten wie ungewissen Zukunft, und das war beängstigend genug.

Sie wandte sich Luke zu und griff in ihr neues Handtäschchen. »Ich hab was für dich. Als wir aus dem Institut geflohen sind, hatte ich es in der Tasche, ohne es zu wissen. Jetzt sollst du es haben.«

Was sie ihm gab, war eine zerdrückte Zigarettenschachtel. Vorn war ein Cowboy abgebildet, der ein Lasso schwang. Darüber stand der Markenname: RODEO ZUCKER-ZIGARETTEN. Und darunter stand: RAUCH WIE DEIN DADDY!

»Es sind bloß noch ein paar Kippen übrig«, sagte sie. »Zerbröselt und wahrscheinlich schon lasch, aber…«

Luke begann zu weinen. Diesmal war es Kalisha, die die Arme um ihn legte.

»Nicht, Schatz«, sagte sie. »Bitte nicht. Willst du mir etwa das Herz brechen?«

5

Als Kalisha und Wendy abgefahren waren, fragte Tim, ob Luke mit ihm Schach spielen wolle. Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich gehe einfach eine Weile hinten raus und setz mich unter den großen Baum. Ich fühl mich innerlich ganz leer. So leer habe ich mich noch nie gefühlt.«

Tim nickte. »Du wirst dich wieder auffüllen. Glaub mir.«

»Muss ich wohl. Tim, meinst du, dass einer von denen seinen Schlüssel verwenden muss?«

»Nein.«

Die Schlüssel waren für ein Schließfach in einer Bank in Charleston. Darin lag das, was Luke von Maureen Alvorson erhalten hatte. Wenn einem der Kinder, die jetzt die Catawba Farm verlassen hatten, etwas zustieß – oder Luke, Wendy oder Tim–, dann würde einer von ihnen nach Charleston fahren und das Schließfach öffnen. Vielleicht würden auch alle kommen, falls etwas von dem im Institut geschmiedeten Band geblieben war.

»Ob jemand das, was auf dem USB-Stick ist, wohl glauben würde?«

»Annie auf jeden Fall«, sagte Tim grinsend. »Die glaubt bekanntlich an Geister, Ufos, Seelentausch und wer weiß was.«

Luke erwiderte das Grinsen nicht. »Ja, aber die ist ein bisschen… plemplem, du weißt schon. Wobei sich das gebessert hat, seit sie so oft mit Mr. Denton zusammen ist.«

Tim hob die Augenbrauen. »Mit Drummer? Willst du mir etwa sagen, dass die beiden daten?«

»Ich glaube schon, falls man das auch dann noch so nennt, wenn die Leute, die es tun, alt sind.«

»Hast du das in ihren Gedanken gelesen?«

Luke lächelte leicht. »Nein. Ich kann jetzt wieder bloß noch Pizzableche verschieben und Buchseiten flattern lassen. Annie hat’s mir erzählt.« Er überlegte. »Und ich glaube, es ist in Ordnung, dass ich’s dir weitererzählt habe. Schließlich hat sie mich nicht zur Verschwiegenheit verpflichtet oder so.«

»Ich krieg die Motten. Aber was den USB-Stick angeht… du weißt doch, dass sich manchmal der ganze Pullover auflöst, wenn man an einem losen Faden zieht? Ich glaube, der Stick kann auch so was bewirken. Es sind Kinder darauf, die man wiedererkennen würde. Viele sogar. Das würde zu einer Untersuchung führen, und dann könnte die Organisation, zu der dieser lispelnde Typ gehört, jede Hoffnung begraben, ihr Programm wiederaufzunehmen.«

»Ich glaube, das schaffen die sowieso nicht. Mag sein, dass er was anderes meint, aber das ist bloß wieder magisches Denken. Seit den Neunzehnfünfzigern hat die Welt sich schließlich stark verändert. Hör mal, ich gehe jetzt…« Er deutete vage auf das Haus und den Garten.

»Klar, nur zu.«

Luke machte sich auf den Weg. Eigentlich ging er nicht, sondern stapfte mit gesenktem Kopf dahin.

Beinahe hätte Tim ihn gehen lassen, überlegte es sich aber anders. Er holte ihn ein und legte ihm die Hand auf die Schulter. Als Luke sich umdrehte, umarmte Tim ihn. Er hatte Nicky umarmt – ach, er hatte sie alle umarmt, zum Beispiel wenn sie aus schlimmen Träumen aufgewacht waren–, aber diese Umarmung bedeutete mehr. Sie bedeutete ihm alles. Er wollte Luke sagen, dass er tapfer war, vielleicht der tapferste Junge, den es je außerhalb eines Abenteuerbuchs gegeben hat. Er wollte Luke sagen, dass er stark und anständig war und dass seine Eltern stolz auf ihn gewesen wären. Er wollte Luke sagen, dass er ihn lieb hatte. Doch dafür gab es keine Worte, und vielleicht waren die auch nicht nötig. Genauso wenig wie Telepathie.

Manchmal war eine Umarmung reine Telepathie.

6

Hinter dem Haus stand zwischen der Veranda und dem Garten eine schöne alte Sumpfeiche. Luke Ellis – ehemals aus Minneapolis, Minnesota, ehemals geliebt von Herb und Eileen Ellis, ehemals ein Freund von Maureen Alvorson und von Kalisha Benson, Helen Simms, Nicky Wilholm und George Iles – ließ sich darunter nieder. Er legte die Unterarme auf die angezogenen Knie und blickte hinaus auf das, was Officer Wendy als Achterbahnhügel bezeichnete.

Ein Freund von Avery bin ich auch gewesen, dachte er. Eigentlich war Avery derjenige, der die anderen befreit hat. Wenn es einen Held gegeben hat, dann war das nicht ich. Es war der Avester.

Luke zog die zerdrückte Zigarettenschachtel aus der Tasche und fischte eines der Bruchstücke heraus. Er dachte daran, wie er Kalisha zum ersten Mal gesehen hatte. Da hatte sie mit einer solchen Zigarette im Mund auf dem Boden gesessen. Willst du eine, hatte sie gefragt. In deinem Geisteszustand ist ein bisschen Zucker vielleicht hilfreich. Mir hilft so was in solchen Fällen immer.

»Was meinst du, Avester? Ob es wohl was helfen wird?«

Er zerkaute das Stück Zuckerzeug. Es half tatsächlich, obwohl er keine Ahnung hatte, weshalb; wissenschaftlich war das bestimmt nicht erklärbar. Er spähte in die Schachtel und sah zwei oder drei weitere Stücke. Die hätte er sich jetzt gleich in den Mund stecken können, aber vielleicht war es besser zu warten.

Besser, etwas für später aufzusparen.

23. September 2018

NACHBEMERKUNG DES AUTORS

An dieser Stelle würde ich, liebe Leser, gern einige Worte über Russ Dorr sagen.

Kennengelernt habe ich ihn vor weit über vierzig Jahren in der Stadt Bridgton in Maine, wo er der einzige Arzthelfer in einer Gemeinschaftspraxis mit drei Ärzten war. Er hat sich um die kleineren medizinischen Probleme meiner Familie gekümmert, von Magengrippe bis hin zu den Ohrenentzündungen der Kinder. Bei Fieber empfahl er augenzwinkernd klare Flüssigkeiten, »nur Gin und Wodka«. Er fragte mich, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene, worauf ich ihm sagte, ich würde Romane und Kurzgeschichten schreiben, hauptsächlich gruselige Sachen über übersinnliche Phänomene, Vampire und andere Monster.