Bist du verrückt geworden?, schalt sie sich. Lässt du dich jetzt etwa im Traum vergewaltigen?!
Der Aschenbecher quoll über. Klawdi sackte gegen die Lehne des harten Drehstuhls zurück und schloss die Augen. Nur eine kurze Pause … Wie spät war es eigentlich?
Die grausame, flexible und zuverlässige Maschinerie der Inquisition war sein Verdienst. Genau wie es auch sein Verdienst war, dass ein unterschriebener Befehl nicht einfach ein Stück Papier blieb, sondern sich umgehend in Kontrollen und Überprüfungen verwandelte, in Verhaftungen, Treibjagden und Patrouillen. Nicht umsonst saß er seit fünf Jahren auf diesem Stuhl. Er konnte nur vermuten, welche Verwünschungen die aberhundert Hexen für ihn parat hatten, in den fernen Provinzen genauso wie in den Nachbarstraßen.
Er lächelte bitter. Die Alarmglocke, die seit dem Besuch bei seinem Freund Mytez in ihm schrillte, klang nun ein wenig leiser, war aber nicht verstummt. Immerhin hatten sie die Epidemie in Rjanka in den Griff bekommen und in Odnyza eine Tragödie verhindert. Dennoch verstand niemand, woher diese enorme Bosheit bei den Hexen, die zwar auch sonst nicht gerade als harmlos gelten konnten, plötzlich rührte. Und woher diese neue Unterart kam, diese ungehemmt aggressiven Hexen mit den noch nie da gewesenen tiefen Brunnen und ihren nicht nachvollziehbaren, ja, sogar wahnsinnigen Motiven. Sollten das etwa die grauen, nicht initiierten kleinen Hexen sein, die in jedem Städtchen registriert waren und einer strengen Kontrolle unterstanden? Was erwarteten sie von ihrem neuen Leben — das ihnen letztlich doch nur den Tod brachte?
Etwas musste sich an ihrem Selbsterhaltungsinstinkt verändert haben. Der oberflächliche Sieg — die Ruhe, die wieder im Land eingekehrt war — konnte sich nur allzu rasch als Gott weiß was herausstellen. Sie konnten tausend Hexen festsetzen — aber wer garantierte ihnen, dass daraufhin nicht dreitausend neue auftauchten? Quasi aus dem Nichts?
Er spielte mit dem Füller. Eine großartige Feder, die mit einer einzigen Unterschrift solche unversehens auftauchenden Wesen einen Kopf kürzer machen konnte. Nur gut, dass die Tinte nicht rot war …
Schmerzhaft verzog er das Gesicht. Selbst jener sture Bengel, der vor vielen Jahren zum ersten Mal die Schwelle der Inquisitionsschule übertreten hatte, hätte kaum angenommen, dass er einmal derart … in der Scheiße säße. Nieder mit dem Abschaum! In der Tat eine treffende Losung!
Unter seinen Lehrern war ein kluger und — wie es ihm schien — recht anständiger Mann gewesen, ein überzeugter Verfechter der »Null-Variante«. Offiziell hatte die Inquisition immer wieder erklärt, sie teile diese Idee nicht, hatte ihren Mitarbeitern andererseits jedoch nie verboten, die offenkundigen Vorteile dieser Variante zu diskutieren. Die Null-Variante erklärte klipp und klar: Hexen waren überflüssig. Ohne Wenn und Aber. Jede Einzelne von ihnen …
Verärgert wollte Klawdi schon den Füller von sich schleudern. Stattdessen atmete er jedoch tief durch und legte ihn akkurat auf dem Tisch ab.
An der Telefonanlage flackerte ein grünes Lämpchen auf.
»Ja.«
»Nieder mit dem Abschaum! Helena Torka, Registrierungsnummer 68, verlangt hartnäckig, vorgelassen zu werden, Patr …«
»Ich weiß, wer sie ist, Myta. Ist sie allein?«
»Die anderen … Es waren bereits zweiundsiebzig Menschen da, Patron, seit heute Morgen. Ich habe sie zu den Kollegen geschickt und … kurz und gut, sie wurden schon alle abgefertigt. Von Herrn Hljur und seinen Kollegen. Aber die Torka …«
»Schicken Sie sie rein.«
»Ja, Patron.« Die Sekretärin atmete erleichtert auf.
Unter den vielen Wyshnaer Hexen gab es nur ein knappes Dutzend, das das Privileg genoss, der Kontrolle des Großinquisitors persönlich zu unterstehen. Klawdi selbst hatte diese Bestimmung eingeführt, und im Laufe der letzten fünf Jahre hatte sie ihren innovativen Charakter eingebüßt und war zu einer gewohnten Erscheinung geworden. Die Zeit, die ihn das kostete, bedauerte Klawdi nicht, denn die privilegierten Hexen waren ausnahmslos interessante Gesprächspartnerinnen.
Helena Torka leitete die Wyshnaer Oper etwa so lange, wie auch Klawdi der Inquisition vorstand. Letztlich war es ihr sogar nur dank Starsh gelungen, sich auf ihrem Posten zu halten. »Unser neuer Großinquisitor ist ein toleranter Mann.«
Helena Torka war »taub«, also eine nicht initiierte Hexe, ungeachtet zahlreicher Verlockungen, ihres impulsiven Charakters und ihrer fast fünfzig Jahre. In der Regel kannte Helena Torka den Preis der Dinge. Wichtiger als das war jedoch: Helena Torka war ihrem Theater so treu ergeben wie ein Hund.
Lautlos wurde von außen die Tür geöffnet. Die Frau, deren Gesicht von einem Hutschleier verdeckt wurde, erzitterte schmerzgepeinigt. Nie zuvor hatte Klawdi sie hier empfangen. Für die regulären Kontrolltreffen mit dieser Vertreterin der Boheme eignete sich das kleine Zimmer einen Stock tiefer weitaus besser, erinnerte es mit seinem großen Spiegel und dem Sofa doch an eine Theatergarderobe. Sein Büro strahlte dagegen weder Ruhe noch Vertraulichkeit aus, eher im Gegenteil. Keine Hexe genoss den Anblick des Geständniszeichens, das direkt in die Holzverkleidung der Wand geschnitzt war. In dreifacher Ausführung.
»Guten Abend, Helena.« Klawdi erhob sich und versuchte gleichzeitig, den Schlag zu mildern, der auf die Hexe niederging. Die Direktorin der Oper hatte sich nie auch nur einer mittelstarken Abwehr rühmen können.
»Ich grüße Sie, mein Inquisitor.« Kaum merklich neigte die Frau den Kopf. »Wir leben in schweren … Zeiten …«
»Zumindest sind sie nicht leicht.« Klawdi wartete, bis die Frau im Besuchersessel Platz genommen hatte, bevor er nach den Zigaretten griff, diese dann jedoch wieder wegsteckte. »Ich bin vermutlich gerade keine besonders gute Gesellschaft. Ist mein Druck auf Sie zu stark?«
»Nein.« Die schmalen Lippen unter dem Schleier lächelten tapfer. »Das halte ich schon aus … Schließlich habe ich deswegen … wegen dieses unvergesslichen Eindrucks … bereits sechs Stunden im Vorzimmer gewartet.«
»Das tut mir leid, Helena«, antwortete Klawdi ungerührt. »Ich hoffe, Sie haben dafür Verständnis.«
Der Kopf mit dem schwarzen Hut nickte bedächtig. Krampfhaft versuchte die Frau, das Geständniszeichen an den Wänden zu ignorieren.
»Kommen wir zur Sache.« Klawdi setzte sich ebenfalls. »Heute ist keiner von den Tagen, an denen Sie sich melden müssten. Was hat Sie, eine viel beschäftigte Frau, also veranlasst, sich diese sechs Stunden stehlen zu lassen?«
»Ich würde Sie nicht behelligen …«, die dünnen Lippen lächelten erneut, »… wenn ich diese Angelegenheit nicht für außerordentlich bedeutsam hielte.«
»Die Oper?«
»Die Schule. Wie Sie wissen, mein Inquisitor, untersteht die Ballettschule vollständig dem Theater … Die Ausbildung der Eleven …«
»Das ist mir klar. Weiter.«
»Gestern … sind fünf Mädchen verhaftet worden. Heute Morgen zwei weitere.«
»Wie viele sind es insgesamt? Hexen, meine ich.«
»Es sind sehr begabte Kinder.« Wie in Zeitlupe lüftete die Direktorin den Schleier, um ihrem Gesprächspartner das schmale, bleiche Gesicht mit den beiden blauen Venenschnüren an den Schläfen zu enthüllen. »Alles Mädchen. Zwischen vierzehn und sechzehn.«
»Wie viele?«
»In der Schule zehn.«
»Das sind sehr viele, Helena.«
»Das liegt an der Kunst.« Die Frau reckte das Kinn gebieterisch vor. »Es ist schließlich nicht meine Schuld, dass … begabte Kinder sich so häufig als welche … von uns … herausstellen.«
Klawdi sackte gegen die harte Lehne zurück. Im Grunde war das keine Neuigkeit. Unter den Mädchen, die den schönen Künsten zugeneigt waren, gab es einen extrem hohen Anteil junger Hexen. Nicht initiierter selbstverständlich.