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»Wie heißt du?«

»Clara«, antwortete das Mädchen mit weit aufgerissenen Augen. Sie fürchtet sich, dachte Lucas. Aber da war noch etwas anderes.

»Sie wissen nichts«, meinte ein Mann herablassend. »Sie war heute Morgen zu Hause. Sie ist zwischen 7.30 Uhr, als sie das Haus verlassen hat, und 8.00 Uhr, als sie nicht am Arbeitsplatz erschienen ist, verschwunden. Wir müssen anfangen zu suchen und dürfen keine Zeit verlieren.«

»Und dir ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen, als du sie das letzte Mal gesehen hast? Hat sie nichts zu dir gesagt?«, fuhr Lucas fort und behielt das Mädchen dabei genau im Auge, um herauszufinden, woran es lag, dass er den Drang verspürte, weiter nachzuforschen.

Das Mädchen schien sich unbehaglich zu fühlen. »Ich weiß nicht. Wir haben gestern Abend Ball gespielt. Nur gespielt …« Die Kleine schluckte und Tränen stiegen ihr in die Augen. Ein Mann stellte sich schützend neben sie. Ihr Vater.

»Sie weiß nichts. Wir sollten keine Zeit mehr vergeuden und mit der Suche anfangen.«

Lucas nickte zögernd. »Okay«, sagte er. »Das übliche Vorgehen.«

Die Leute teilten sich in Gruppen auf, bestimmten die Gebiete, wo gesucht werden sollte, und einigten sich darauf, wie sie die Berichterstattung organisieren wollten für einen schnellen und effektiven Informationsaustausch. Sie suchten den ganzen Tag, ohne Pause, und bis in den Abend hinein. Als es dunkel wurde, wurden die Frauen und die jüngeren Leute nach Hause geschickt, und die Männer setzten die Suche fort. Bei Tagesanbruch waren nur noch Lucas und Gabrielles Vater, Gabrielles Onkel und die Arbeitskollegen ihres Vaters unterwegs. Sie vermieden es, einander anzusehen, und keiner wagte auszusprechen, was insgeheim jedem klar war – dass Gabrielle verschwunden war, genau wie die anderen Jugendlichen, und dass sie sie nicht finden würden.

Am Morgen gingen die Menschen wie gewohnt zur Arbeit. Übernächtigt brach Lucas die Suche ab, schickte die Männer nach Hause zum Schlafen und entband sie für den restlichen Tag von ihren Pflichten. Sie gehorchten nur widerstrebend. Lucas sah ihnen mit ernstem Gesicht nach, dann drehte er sich um und machte sich auf den Weg zu seinem Büro. Er wollte nicht schlafen. Er konnte nicht. Er hatte das Gefühl, als würde er nie mehr schlafen können.

Die Menschen starrten Lucas an, als er vorbeiging, aber Lucas achtete kaum darauf. Mittlerweile war er immun gegen diese Art Aufmerksamkeit, und er hatte gelernt, es zu verdrängen. Er senkte den Kopf, zog den Mantel fest um sich und ging weiter. Der Bruder hatte recht, er konnte nicht gut mit Menschen umgehen, und es fiel ihm schwer, beruhigende Worte zu finden und Kontakt herzustellen. Ein Leben lang hatte er seine Gefühle unterdrückt, und jetzt war er nicht einmal mehr sicher, ob er überhaupt welche hatte. Er wusste nur, wie man ruhig, cool und gefasst blieb und so tat, als hätte man keine Angst und als hätte man alles im Griff.

Aber er hatte beileibe nicht alles im Griff. Während er so ging, begann er plötzlich zu zittern, nicht vor Kälte, sondern weil die Gefühle ihn übermannten. Er hatte versagt. Er hatte die Stadt im Stich gelassen.

Er hatte seinen Vater im Stich gelassen.

Auf einmal merkte er, dass er einen Bärenhunger hatte. An der Ecke war eine Bäckerei. Er ging hinein und kaufte einen Laib Brot und zwei Brötchen. Essen würde dafür sorgen, dass er durchhielt, und ihm helfen, gegen die Zweifel anzukämpfen, die in seinem Kopf kreisten wie Geier, um beim kleinsten Anzeichen von Schwäche zuzuschlagen. Das durfte er nicht zulassen. Sobald er die verschwundenen Teenager gefunden hätte, wollte er eine Entscheidung treffen: Vielleicht würde er dann die Stadt verlassen. Aber bis dahin musste er stark und konzentriert sein.

Er senkte wieder den Kopf und ging weiter. Als er gerade um die Ecke auf die Hauptstraße bog, wo sich die Regierungsgebäude befanden, blieb er stehen, weil plötzlich ein Mädchen neben ihm auftauchte, das ihm irgendwie bekannt vorkam. Dann fiel ihm ein, dass es das Mädchen von letzter Nacht war.

»Clara?«, sagte er.

Sie sah überrascht aus, weil er sich an ihren Namen erinnerte, und nickte.

»Ist dir noch etwas eingefallen? Etwas, was du mir erzählen willst?«

Das Mädchen sah ihn misstrauisch an. Ihre Fingernägel waren abgekaut, ihre Augen blutunterlaufen. Lucas nahm an, dass sie auch nicht geschlafen hatte.

»Erzähl mir, was du weißt«, sagte er ruhig. »Du kannst mir vertrauen. Ich möchte nur deine Freundin finden.«

Sie biss sich auf die Lippen. »Sie haben früher das System geleitet, nicht wahr?«

Lucas nickte. »Ja.«

»Und Ihr Bruder … Raffy, meine ich. Er hat den Fehler entdeckt. Wegen ihm haben Sie … wurde das System abgeschaltet?«

»Mehr oder weniger«, erwiderte Lucas achselzuckend. »Das System hätte nie in Betrieb genommen werden dürfen. Nicht so. Eigentlich sollte es uns beschützen, aber stattdessen hat es sich zu einem Tyrannen entwickelt und uns kontrolliert. Deshalb haben wir es abgeschaltet.«

Clara nickte unsicher.

»Niemand hört uns«, sagte Lucas. »Wenn du mir etwas sagen willst, wird es niemand anders erfahren.«

Clara blickte erschrocken auf. »Aber das ist es ja gerade. Sie werden es doch erfahren. Wenn ich es Ihnen erzähle, werden Sie auch verschwinden«, flüsterte sie. »Sie können alles hören.«

Lucas sah sie zweifelnd an. »Sie

Clara schüttelte den Kopf. »Das ist nicht wichtig«, sagte sie und ging.

»Und ob das wichtig ist«, erwiderte Lucas und lief hinter ihr her. »Clara, rede mit mir. Von wem redest du? Wer kann alles hören?«

Clara schüttelte wieder den Kopf, sie hatte Tränen in den Augen. »Ich kann nicht«, flüsterte sie.

»Doch, du kannst«, sagte Lucas bestimmt. »Und du musst. Von wem redest du? Wer sind diese Leute?«

Clara sah sich verstohlen um. Angst lag in ihrem Blick, und sie biss sich besorgt auf die Lippen. »Die Spitzel«, flüsterte sie. »So nennen wir sie. So haben wir sie genannt, meine ich. Sie lassen alle verschwinden. Und ich bin die Nächste. Ich weiß es. Ich bin die Einzige, die noch übrig ist.« Ihre Stimme bebte, und als Lucas näher kam, bemerkte er, dass sie am ganzen Körper zitterte.

»Du wirst nicht die Nächste sein«, sagte er mit grimmiger Miene. »Sag mir, was du weißt, und ich werde dich beschützen.«

Clara schüttelte den Kopf und sah sich nervös um.

»Sind sie hier?«, fragte Lucas.

»Sie sind überall«, flüsterte das Mädchen.

Lucas überlegte eine Weile, dann nahm er ihre Hand. »Komm mit«, sagte er, schlug den Mantelkragen hoch und senkte den Kopf. »Ich kenne einen sicheren Ort, wo wir reden können.«

Während Lucas und Clara mit etwas zittrigen Beinen losliefen, dachte Lucas daran, wie Evie sich gefühlt haben musste, als sie sich Nacht für Nacht aus dem Haus schlich und denselben Weg nahm, wohl wissend, dass ihr Leben eine schreckliche Wendung nehmen würde, falls sie erwischt wurde.

Er musste daran denken, wie ihm zumute gewesen war, als er auf dem Bildschirm des Systems beobachtet hatte, wie sich der kleine rote Punkt, der für das Mädchen stand, das er heiraten sollte, auf einen anderen Punkt, seinen Bruder, zubewegte. Er erinnerte sich, dass er wie angewachsen auf dem Stuhl saß, unfähig sich zu bewegen, als die Punkte sich einander näherten und schließlich zu einem Punkt verschmolzen. Nach etwa einer Stunde trennten sie sich wieder. Lucas wartete immer, bis Evies Punkt wieder im Haus war, wo er hingehörte. Dann löschte er die Information fein säuberlich, um Evie und seinen Bruder zu schützen und sämtliche Beweise für ihre heimlichen Treffen zu vernichten. Dabei redete er sich ein, dass seine Magenschmerzen von der Angst um die beiden kamen und nichts mit Neid oder dem verzweifelten Verlangen zu tun hatten, der Punkt zu sein, den ihr Punkt suchte …