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Lucas hatte Evie immer geliebt. Und jetzt, da sie fort war, hatte er das Gefühl, als wäre er von dunklen Wolken umgeben. Ohne sie gab es für ihn in der Stadt nichts, woran er sich erfreuen konnte. Ohne sie war er zum Scheitern verurteilt, denn er wusste nicht, was er tun sollte, und es gelang ihm nicht, gegen die Wogen der Verzweiflung anzukämpfen, die ihn mitzureißen drohten.

Doch es hatte keinen Sinn, darüber nachzudenken. Sie war fort und sie würde nicht zurückkommen. Sie gehörte ihm nicht und würde ihm auch nie gehören. Er hatte die Stadt, und um die musste er kämpfen, so wie er es sein Leben lang getan hatte.

Nach zehn Minuten waren Lucas und Clara am Ziel. Der Baum, wo sich die beiden Punkte gefunden hatten, war riesig, eindrucksvoll und großartig; er war höher als alle Gebäude, die aus der Vergangenheit übrig geblieben oder die seither erbaut worden waren. Lucas ging dorthin, fand die Öffnung und führte Clara ins Innere, wo sie sich erstaunt umsah. In dem Stamm war es behaglich, wie im Mutterleib, ein sicherer Hafen. Weiter hinten lag eine Decke. Lucas hob sie auf und breitete sie auf dem feuchten Boden aus.

»Setz dich«, sagte er zu Clara. »Hier sind wir sicher. Erzähl mir alles, was du weißt, und ich verspreche dir, dass du beschützt wirst.«

Clara sah sich zaghaft um.

»Was ist das für ein Ort?«, flüsterte sie.

»Nur ein Versteck«, erklärte Lucas und setzte sich ihr gegenüber. Er versuchte, die Leere, die sich in ihm ausgebreitet hatte, und das verzweifelte Verlangen nach Evie, das ihn schon den größten Teil seines Lebens quälte, zu verdrängen. »Hast du Hunger?«

Er holte das Brot hervor, brach für Clara ein Stück ab und gab ihr dazu noch ein Brötchen. Den Rest schlang er in Sekundenschnelle hinunter. Clara folgte seinem Beispiel. Dann holte sie tief Luft.

»Wollen Sie es wirklich wissen?«, fragte sie. »Denn die werden es erfahren. Und sie werden kommen, um Sie zu holen. Deshalb ist Gabby … Wissen Sie, ich habe es ihr erzählt. Sie hat geahnt, dass ich etwas weiß. Sie hat gesehen, wie wir miteinander geflüstert haben. Ich und die … die Verschwundenen. Sie hat mich regelrecht angefleht. Ich wollte es nicht, aber … Ich hatte niemanden, mit dem ich sonst hätte reden können. Ich hatte Angst, weil ich dachte, ich wäre die Nächste. Ich hätte eigentlich die Nächste sein müssen. Und jetzt ist sie weg. Verschwunden. Sie wollten mich bestrafen, weil sie uns eingeschärft hatten, es keinem zu erzählen. Und jetzt sind sie hinter mir her. Oder hinter Ihnen. Vielleicht stehen sie jetzt schon draußen. Sie könnten auch hinter Ihnen her sein …« Sie zog die Knie an und schluchzte leise. »Und es macht mir noch nicht mal was aus, ich will einfach nur, dass es vorbei ist. Ich will nur, dass es aufhört.«

Clara sah Lucas ängstlich an.

»Erzähl mir, was du weißt«, sagte er ruhig. »Sag, wer dahintersteckt, und ich werde …« Er brach ab, er konnte den Satz nicht beenden. Er würde sie töten. Ja, das würde er. Diesmal würde er keine Gnade walten lassen und seine Rachsucht unterdrücken. Ehre zählte bei solchen Leuten nicht. Er begegnete Claras Blick. »Ich werde sie aufhalten. Verstehst du?«

Clara hob eine Braue. »Dabei wollte ich gar nicht gehen«, schniefte sie und blickte zu Boden. »Ich wollte nicht in das blöde Krankenhaus.«

»Das Krankenhaus?« Lucas runzelte die Stirn.

»Da hat alles angefangen«, sagte das Mädchen zitternd. »Da haben wir sie gesehen.«

»Die Spitzel?«

Clara nickte.

Es sei ein Wagnis gewesen, erklärte sie, weil der Seitenflügel des Krankenhauses, in dem die Neutaufen vorgenommen wurden, verschlossen gewesen sei und sie sich unbedingt dort umsehen wollten.

Es war die Idee ihres Freundes Edward gewesen, in das Krankenhaus einzubrechen. Er hatte geprahlt, hatte sich einen Kuss von Clara ausbedungen, mit einem Funkeln in den Augen, das sie aufregend fand. Also waren sie zu siebt losgezogen, durch den Haupteingang geschlüpft, die Treppe hochgerannt und so in den Fisher-Flügel gelangt. Dort gab es jedoch nur eine verschlossene Tür und undurchdringliche, fensterlose Wände.

»Los, gehen wir wieder«, hatte Clara sofort gesagt. Da gab es nichts, jedenfalls nichts Interessantes, und das Krankenhaus war ihr nicht geheuer. Aber Edward wollte noch nicht aufgeben.

»Ich dachte, in der Stadt darf es keine Geheimnisse mehr geben«, sagte er und zog eine Braue hoch, als betrachtete er das als Herausforderung. »Wir sollen doch jetzt selbstständig denken, oder? Wurde das System nicht genau aus diesem Grund zerstört? Also, ich denke gerade selbstständig. Und ich denke, ich will sehen, was hinter dieser Wand ist. Ihr nicht? Los, wir gehen von hinten rein.«

Edward zwinkerte Clara zu, nahm sie bei der Hand, lief den Korridor zurück und bog kurz darauf links um die Ecke. Die anderen rannten hinterher. Sie wussten, was hinter der Tür war und was Edward sehen wollte. Der Fisher-Flügel. Der Ort, wo die Neutaufen stattfanden. Oder die Verstümmelungen, je nachdem, wem man glauben wollte.

Sie gingen eine Schleife und gelangten in einen kleinen Raum, wo es nach Wäsche roch. Dort suchten sie nach einer anderen Möglichkeit, in den Seitenflügel zu gelangen, nach einer Hintertür oder so etwas.

»Hier!«, rief Clara plötzlich, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Da war eine schmale Öffnung in der Wand. Verschlossen zwar, aber leicht aufzubrechen. Eine Durchreiche für die Wäsche. »Meint ihr, wir kommen da durch?«, fragte sie die anderen, die gleich zu ihr gerannt waren, und sie begann innerlich zu glühen, als Edward ihr einen triumphierenden Blick zuwarf.

»Ich denke, das schaffen wir auf jeden Fall«, meinte er grinsend und zog sich an der Öffnung hoch. Gerade als er sich hindurchzwängen wollte, waren auf der anderen Seite der Öffnung Schritte und gedämpfte Stimmen zu vernehmen. Männer. Im Fisher-Flügel. Leise ließ sich Edward wieder auf den Boden gleiten.

»Und wenn das System nicht mehr zu retten ist?«

»Natürlich ist es zu retten. Der Bruder will uns nur hinhalten, das ist alles. Er meint, je länger es dauert, desto besser kann er verhandeln. Aber wir brauchen ihn nicht. Wir brauchen den Jungen. Raffy. Wenn wir ihn finden, können wir den Bruder beseitigen. Er wird allmählich zu anstrengend. Zu schwierig.«

»Was ist mit Lucas?«

Ein Seufzer war zu hören. »Zuerst müssen wir seinen Bruder Raffy finden. Dann kümmern wir uns um Lucas.«

Clara hatte nicht bemerkt, dass Harriet rot anlief und dass ihr der Schweiß von der Stirn tropfte. Erst als sie hustete und ein Taschentuch hervorzog, um das Geräusch zu dämpfen, begriff Clara, dass Harriet verzweifelt versuchte, den Husten zu unterdrücken.

In dem Moment waren die Schritte und die Stimmen verstummt. Clara und ihre Freunde waren wie erstarrt und warfen sich ängstliche Blicke zu. Nur Sekunden später standen die Männer hinter ihnen im Wäscheraum und starrten sie an. Sie trugen schwarze Jacken und schwarze Hosen. Ihre Gesichter waren streng und undurchdringlich.

»Sie sind hier«, rief einer der Männer. Sie traten zur Seite und ein weiterer Mann betrat den Raum. Nachdem er sich einen Überblick über die Szene verschafft hatte, kniff er die Augen zusammen und betrachtete prüfend jedes einzelne Gesicht.

»Ihr wisst, wer wir sind?«, fragte er dann, und Clara erkannte die Stimme sofort: Das war der Mann, der zuvor über Lucas und den Bruder geredet hatte.