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Raffy erzählte sie nichts davon, denn sie war sich nicht sicher, ob er sie verstehen würde.

In Wahrheit wusste Evie, dass Neil mehr Essen bekäme, wenn er nur darum bitten würde, denn die Nahrung wurde nur deshalb gleich verteilt, weil das wohl am vernünftigsten und am fairsten war. In der Siedlung gab es keine Reglementierung, es war ein Ort der Gemeinschaft, wie Benjamin, Stern und die anderen immer wieder betonten. Alles durfte diskutiert werden, und jeder hatte das Recht, anderer Meinung zu sein oder vorzuschlagen, wie man etwas anders machen könnte.

Aber niemand hatte je darum gebeten, dass irgendetwas geändert werden sollte.

»Ich habe das Buch dabei, das ich erwähnt habe.« Neil hielt es in die Höhe, und auf Evies Gesicht erschien ein Lächeln. Er warf ihr das Buch zu und sie sprang hoch und fing es auf.

»Danke«, sagte Evie und strahlte, als sie das Buch in den Händen drehte. Neil hatte ihr in seinem Kurs Kreatives Schreiben, der jeden Mittwochabend stattfand, von dem Buch erzählt. Benjamin hatte Evie den Kurs vorgeschlagen, weil er dachte, das Schreiben könnte vielleicht eine reinigende Wirkung haben. Anfangs hatte Raffy sie begleitet, weil er angeblich seine Gedanken auch so gern niederschreiben wollte wie sie, aber schließlich war er abgesprungen und einem anderen Klub beigetreten, weil ihm die Ausreden ausgegangen waren, warum sie allein in ihren Kurs gehen sollte.

Evie liebte die Sprache und wie sich durch ein einziges Wort ein ganzer Satz verändern ließ, wie Gefühle, Spannung oder Angst erzeugt wurden, wie all das Schreckliche, das sie erlebt hatte, durch das Niederschreiben nur noch zu Worten auf einer Seite wurde und wie das Schreiben ihr half, sich davon zu befreien.

»Ich bin sicher, es wird dir gefallen«, meinte Neil. »Die Autorin hat vor über hundert Jahren gelebt, aber ihre Bücher sind immer noch aktuell, weil sie über allgemeine Themen schreibt und weil in ihren Worten Wahrheit liegt. Du wirst sehen, was ich meine.«

Evie lächelte dankbar. In der Stadt hatte sie Lernen immer gehasst; die Zahlen und Fakten, die sie auswendig lernen und wortwörtlich wiedergeben musste; wo keine Fragen, keine Fantasie und nichts Neues erlaubt waren. Jeder, der anders war, war gefährlich, und man durfte ihm nicht trauen. Jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr Angst die Stadt beherrscht hatte; Angst, etwas falsch zu machen; Angst, mit jemandem zu sprechen, der einen womöglich mit dem Bösen ansteckte; Angst, im Rang herabgestuft zu werden; Angst, dass einem nahestehenden Menschen dasselbe widerfuhr; Angst vor den Bösen außerhalb der Stadtmauern; Angst davor, was passieren würde, wenn die Mauern niedergerissen wurden, wenn die Entschlossenheit schwand, wenn das Böse wieder die Herrschaft übernahm. Angst lähmte und schwächte. Angst machte die Menschen unsicher, nervös, unglücklich und verschlossen.

»Sehen wir uns am Mittwoch?«, fragte Neil, und Evie nickte und strahlte ihn an.

»Also, bis dann«, sagte sie, öffnete ihre Tasche und steckte das Buch hinein. Es hatte den Titel Alle Menschen sind sterblich. Als sie das Buch in die Tasche schob, streiften ihre Finger einen harten, metallenen Gegenstand, und sie errötete schuldbewusst. Sie beschleunigte den Schritt, so als hätte sie Angst, jemand könnte ihr folgen, könnte wissen, was das war.

Es war eine Uhr.

Lucas’ Uhr.

Die Uhr, die er ihr an dem Tag gegeben hatte, als sie und Raffy die Stadt für immer verlassen hatten.

Die Uhr, die Lucas’ und Raffys Vater gehört hatte. Lucas hatte sie gebeten, sie Raffy zu geben, und dann hatte er ihr gesagt, dass er sie liebe und dass er sie immer geliebt habe.

»Alles okay, Evie?« Neil ging mit besorgtem Gesicht auf sie zu. Evie spürte, dass sie heftig errötete.

»Alles in Ordnung«, erwiderte sie rasch, obwohl sie wusste, dass sie alles andere als überzeugend klang. »Wirklich, mir geht es gut.«

Es hatte einige Wochen gedauert, bis sie den Moment für gekommen hielt, Raffy die Uhr zu geben. Sie hatte gewartet, bis sie dachte, Raffy würde es verstehen, er würde seinem Bruder vergeben und Lucas so sehen, wie er wirklich war, und nicht als den unterdrückerischen älteren Bruder, als der er sich gab.

Evie hatte Raffy die Uhr in die Hand gedrückt, so wie Lucas es bei ihr getan hatte, und ihm erklärt, dass Lucas wollte, dass er sie bekäme. »Er hat gesagt, sie hat immer dir gehört. Euer Vater hatte ihn gebeten, für dich darauf aufzupassen. Er konnte sie dir nicht früher geben. Aber jetzt … jetzt sollst du sie tragen.«

Raffy betrachtete die Uhr eine Weile und stopfte sie dann in seine Tasche.

»Willst du sie nicht umtun?«, fragte Evie, fing sich aber nur einen wütenden Blick ein.

»Umtun? Nein«, entgegnete Raffy schroff.

Und damit war die Sache erledigt – dachte Evie zumindest. Ein paar Wochen später nahm sie noch einmal ihren ganzen Mut zusammen und fragte Raffy, ob er sich vorstellen könnte, die Uhr zu tragen.

»Lucas’ Uhr?«, meinte Raffy spöttisch. »Die hab ich gar nicht mehr. Ich hab sie beim Bäcker gegen Kuchen eingetauscht. Erinnerst du dich an den Schokoladenkuchen? Der ist mehr wert als eine goldene Uhr.«

Evie hatte ihn ungläubig angestarrt. »Aber Lucas hat die Uhr extra für dich aufgehoben. Jahrelang. Sie hat doch deinem Vater gehört. Er … «

»Nicht«, unterbrach Raffy sie. Er ging auf Evie zu mit einem Gesichtsausdruck, der ihr völlig fremd war. Sein Blick war so kalt, als wäre er jemand anders, jemand, den sie nicht kannte und den sie auch nicht kennen wollte. »Erwähne Lucas mir gegenüber nie wieder. Oder meinen Vater. Oder diese Uhr. Hast du verstanden?« Sein Gesicht war ganz nah, aber es lag keine Vertrautheit, keine Zärtlichkeit in seinem Blick. Er nahm sie überhaupt nicht wahr. Er sah nur seinen Groll, sah nur seine eigene selbstsüchtige Wut.

Evie hatte nur genickt. Sie schäumte innerlich vor Wut und konnte Raffy kaum ansehen, geschweige denn mit ihm reden. Doch vier Monate später hatte der Bäcker eine ganze Garnitur Vorhänge und Kissenbezüge bekommen, die Evie selbst aus Stoffresten aus den Arbeitsräumen genäht hatte, und sie hatte die Uhr wieder.

Jetzt brachte sie die Uhr regelmäßig zu einem Versteck und ließ sie nie längere Zeit am selben Ort. Noch etwas, was sie vor Raffy geheim halten musste, eine Zeitbombe, die jeden Moment hochgehen konnte. Aber dieses Risiko ging sie ein. Raffy war ja vielleicht froh, wenn er nicht mehr an Lucas denken musste, wenn er dessen Opfer vergessen und so tun konnte, als hätte Lucas nie existiert. Aber Evie konnte das nicht. Und sie wollte es auch nicht.

Lucas existierte. Und Evie hoffte, dass er glücklich war, dass er endlich in der Stadt den Frieden gefunden hatte, den er gesucht hatte. »Gut, dann sehen wir uns am Mittwoch«, meinte Neil achselzuckend, lächelte ihr ein letztes Mal zu und ging davon.

4

Lucas atmete tief durch und musterte die Frau, die ihm gegenübersaß. Amy Jenkins. Er hatte schon oft mit ihr gesprochen; er hatte dafür gesorgt, dass ihre Zeitung The City News erscheinen konnte, weil er dachte, die Bürger der Stadt würden die Einführung der Pressefreiheit, des eigenständigen Denkens, begrüßen und dadurch ermutigt, wieder an sich selbst zu glauben und gemeinsam eine neue Welt aufzubauen.

Das war vor einem Jahr gewesen. Vor einer Ewigkeit.

Doch jetzt war alles anders.

Jetzt durchstreiften Suchmannschaften die Straßen der Stadt; vor seinen Büros versammelten sich Menschenmassen und forderten seinen Kopf. Er sah überall nur noch wütende Gesichter und hörte verzweifelte Appelle. Und alle wollten nur das eine: das System sollte wieder errichtet werden, die Neutaufe sollte wieder eingeführt werden. Zurück zum Bruder. Zur Unterwürfigkeit.