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Der Anschluß Österreichs ans Reich im Jahre 1938 und die Einführung des Reichskulturkammergesetzes in Österreich zwangen Leo Noussimbaum, wie so viele andere des Wiener Kreises, zum fluchtartigen Verlassen des Landes. Die meisten verließen Wien schon in den ersten Wochen nach dem Anschluß. Seit einigen Jahren hatte sich Essad Bey auf verschiedenen Italienreisen um den Auftrag einer offiziellen Mussolini-Biographie beworben, und er war wohl auch im Knüpfen von Beziehungen schon weit vorgedrungen, möglicherweise hatte er sogar persönlich beim Duce vorgesprochen. Dann aber wurde er von einem Spitzel als Jude denunziert, das Projekt platzte, und als er im Frühjahr 1938 vor dem Einmarsch der Nazi-Truppen in Wien floh und nach Italien ausreisen wollte, verweigerte man ihm ein Einreisevisum. Essad Bey umging dieses Hindernis, indem er zunächst in die italienische Kolonie Lybien reiste, wo er eine Weile als Übersetzer für den faschistischen Gouverneur arbeitete, um im Sommer aufs italienische Festland überzusetzen. Es gelang ihm, sich in Italien als amerikanischer Staatsbürger auszugeben, indem er sein amerikanisches Visum und verschiedene Schiffsbillette vorlegte, aber aufgrund der damals geltenden Rassengesetze und der ›Arisierung‹ des Wiener Verlags war er von jeglichem Einkommen aus seinen Tantiemen abgeschnitten und bald vollkommen mittellos. In dieser Not scheinen ihm die Freunde aus dem Waldviertel mittelbar geholfen zu haben, indem Elfriede verschiedene an ›Frau Kurban Said‹ adressierte Tantiemenauszahlungen abholte und weiterleitete und Essad Bey diese Überweisungen zukommen ließ. Schon bald aber verließ auch Umar Ehrenfels das Land seiner Väter und reiste nach Indien, um erst fünfzehn Jahre später, 1954, nach Europa zurückzukehren, wo er allerdings nur noch das Grab seines einstigen Freundes vorfand.

Bei Kurban Said zeigten sich nun auch die ersten Anzeichen seiner tödlichen Krankheit: er litt an einer Gefäßkrankheit, welche ein allmähliches Absterben der Extremitäten zur Folge hatte. Einsetzender Wundbrand machte fortlaufende Amputationen erforderlich. In einem Krankenhaus in Neapel wurden Essad Bey 1939 zunächst einige Zehen amputiert, doch bescheinigte der behandelnde Chirurg, daß die Krankheit zum gegenwärtigen Stand medizinischer Wissenschaft für unheilbar gelte.

Essad Bey ließ sich in Positano an der Sorrentiner Südküste nieder, einem Ort, der schon lange als eine Art ausländischer Künstlerkolonie bekannt war. Herausgerissen aus der freundlich verrauchten Atmosphäre seines Kaffeehaus-Wiens und des sich gegenseitig befruchtenden literarischen Kreises, empfand er dieses letzte, pittoreske Urlauberdorf allerdings als ein Gefängnis, es wurde sein letztes, wahres Exil. Anfänglich nahm er zwar noch am gesellschaftlichen Leben des Ortes teil, es wurden sogar noch Feste gefeiert, aber zusehends zwang ihn auch seine Krankheit zur Vereinzelung, denn viel Besuch scheint er dort nicht empfangen zu haben. Allerdings traf er 1941 noch mit Ezra Pound in Rom zusammen, und der aus Deutschland geflohene deutsche Schriftsteller Arnim T. Wegner besuchte ihn bis zum Schluß, obgleich er sich in seinen aufschlußreichen Tagebuchaufzeichnungen nicht besonders liebevoll über Essad Bey, den Schreiber und den Kranken äußert. Seine alte baltische Amme aus Baku scheint Essad Bey ebenfalls nach Positano begleitet zu haben, nicht aber der Vater Noussimbaum, der zwar mit nach Wien übersiedelt war, dort aber in der Wohnung in der Herrengasse zurückblieb. Essad Bey schrieb noch verzweifelte Briefe an Elfriede von Ehrenfels-Bodmershof, sie möge sich doch bitte um den alten Herrn kümmern und ihn vor der Gestapo schützen. Offenbar hat sie dies auch getan und ihn mehrfach aufgesucht. Ebenfalls besuchte ihn die neue Sachwalterin des ›arisierten‹ Verlags, in dem Kurban Saids Bücher erschienen waren. Auf Bitten des alten Noussimbaum besuchte diese Frau den Sohn Leo in Positano, was in diesen Kriegsjahren durchaus kein einfaches Unterfangen war. Sie verbrachte zwei Wochen mit ihm in Positano und erlebte den schrecklichen, kaum noch mit Opium zu bewältigenden Schmerzenszustand mit, den Essad erdulden mußte. Bei ihrem nächsten Besuch in der Herrengasse in Wien war der alte Mann verschwunden. Bis zum Schluß, hieß es, habe er sich noch teure Anzüge schneidern lassen und Diener beschäftigt, die ihm die Schuhe putzten, bis ihm eines Tages alle Mittel ausgegangen waren. Im März 1941 wurde er von der Gestapo abgeholt und nach Polen verschleppt. Kurz vor seinem Tod erhielt Essad Bey die Nachricht, daß sein Vater in ein KZ gekommen sei. Am 27.8.1942 starb Essad sechsunddreißigjährig an einer Lungenentzündung, einer Folge seiner Krankheit. Er liegt außerhalb der Friedhofsmauern von Positano begraben, in einem schlichten muslimischen Grab. Die Amme, Alice Schulte, wurde später in einem Armengrab in Meran beigesetzt.

In diesen letzten Jahren (Monaten?) hat Kurban Said noch einen Roman geschrieben, der keiner ist, sondern seine ›echte‹ Lebensgeschichte. Dieser Bericht (»Der Mann, der nichts von der Liebe verstand«) harrt noch immer der Veröffentlichung und mag über viele Punkte, die derzeit noch unklar sind, Aufschlußgeben. Bis dahin bleiben alle Versuche einer Lebensbeschreibung vage und spekulativ.

Die vielen ineinander verschachtelten Personen, die Essad Bey in sich beherbergte, sprechen aus den Büchern, die er schrieb: den Vater macht er zum muslimischen Ölscheich, sich selbst stilisiert er aufwendig zum säbelrasselnden Exil-Kaukasier, zum energischen Mitmischer in der Berliner Bohиme, zum Wiener Kaffeehausliteraten, zuletzt gelingt es ihm fast noch, sich eine amerikanische Identität zuzulegen. Mit Sicherheit sprach er ein gutes halbes Dutzend Sprachen, er war, wie er einmal selbst von sich behauptete, ein »vollendeter Kosmopolit«. In keiner seiner mir bekannten Schriften erwähnt er je seine jüdische Herkunft, bis zuletzt verschleiert er diesen im Nachhinein unübersehbaren Umstand. Gründe dafür zu finden dürfte nicht allzu schwer sein.

»Das Mädchen vom Goldenen Horn« reflektiert bei aller ikonenhaften Skizzierung der Figuren doch allerhand von Kurban Saids eigener Lebensproblematik. Der mutterlose Sohn mit dem Kopf eines jüdischen Intellektuellen und dem Herzen eines orientalischen Gemütsmenschen schwimmt zwischen aller kulturellen Zugehörigkeit hindurch, »still beobachtend«; während ein Hauch von Spöttelei die Lippe kräuselt, bleibt der Blick doch ernst. Aus den erhaltenen Photos schaut einem ein ernstes, sensibles, eher introvertiertes Gesicht entgegen, dem man früh erlebtes Leid durchaus anmuten kann. »Kurban« heißt im übrigen »Opfer« (sacrificium), »Said« bedeutet dagegen »glücklich, erfolgreich«. Warum gebrauchte er diesen etwas ausgefallenen Name als Pseudonym? Er hätte sich schließlich auch »Ahmed« oder »Mehmet« nennen können. War es bloße Lautmalerei, oder sollte ein tieferer Bezug angedeutet werden? Und wenn, welcher?

Viele »offizielle Orientalen« des Exils werteten dies als ärgerliche Maskerade, eine Art ethnischer Travestie, die sie ihm sehr übel nahmen. Doch Essad Bey schwelgte nicht in politischer Romantik noch erging er sich in nostalgischer Sehnsucht nach einer Authentizität, die er nie besessen hatte, noch bestand sein reichliches Wissen aus nur anstudierter Buchgelehrsamkeit. Heute, rund sechzig Jahre nach seinem Tod lesen sich Kurban Saids Bücher nicht etwa wie verjährte journalistische Zeugnisse, die man mit süffisantem Lächeln in ihre Zeit verweisen könnte, »wir, die Nachgeborenen, wissen es besser«, nein. Stoff und Thematik seiner Bücher sind nach wie vor hoch aktuell, zumal die geographische Gegend seiner Heimat gegenwärtig im Brennpunkt des Weltinteresses steht.

Die allerletzten Zeugen dieses Lebens werden bald nicht mehr zu vernehmen sein.

Das Rätsel, das Kurban Said umgibt, mag vielleicht nie ganz gelüftet werden, wir sind letztlich auf seine eigenen Aussagen angewiesen.