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Urilla blieb stehen und hob ihren Kopf, um zu dem ein ganzes Stück größeren Mann aufzusehen. Ihre hellgrünen Augen, die in einem reizvollen Kontrast zu ihrem feuerroten Haar standen, schimmerten feucht.

»Ich weiß nicht, ob ich das gekonnt hätte. Ich glaube nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil ich fürchte, daß die anderen Frauen nicht so ganz unrecht haben.«

Martin starrte sie ungläubig an.

»Sie wollen doch nicht sagen, daß sie sich selbst für eine Hexe oder so etwas halten!«

»Nein, das meine ich nicht. Ich meine das, was man im Treck über mich denkt. Und vielleicht auch sagt, wenn ich nicht dabei bin.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«

»Wirklich nicht?« fragte Urilla skeptisch. »Haben Sie noch nie gehört, daß man mich eine Hure nannte?«

»Ich gebe nichts auf das Geschwätz der Leute«, meinte Martin mit einer wegwerfenden Handbewegung.

»Wollen Sie wissen, wie es wirklich war?«

»Was denn?«

»Die Sache mit Alan Clayton. Und mit Adam.«

»Wenn Sie es mir erzählen wollen.«

Urilla nickte sachte.

»Ich denke, das will ich. Ich habe es schon viel zu lange in mich hineingefressen. Und zu Ihnen habe ich Vertrauen, Martin. Wie zu einem Bruder.«

Daß sie in ihm mehr einen Bruder sah als einen Mann, tat ihm weh, aber Martin zeigte es nicht.

»Ich komme aus Rock Bridge«, begann Urilla, »einer Stadt im südlichen Missouri. Mein Vater war Bürstenmacher und brachte nie viel Geld nach Hause. Wir sind nicht verhungert,

Vater, Mutter und wir vier Kinder, aber oft knurrten unsere Mägen, wenn wir uns abends ins Bett legten. Vor fünf Jahren ist Vater weggegangen, um in Oregon eine neue Heimat für uns zu suchen. Er hatte gehört, daß es dort alles im Überfluß geben soll, fruchtbares Land und leicht zu erjagendes Wild. Er schrieb uns aus Kansas City, daß er sich einem Treck angeschlossen hätte. Das ist das letzte, was wir von ihm gehört haben.«

Sie zog ein silbernes Medaillon, das an einer feingliedrigen Kette hing, unter ihrem Kleid hervor und öffnete es mit geschickten Fingern. Es beinhaltete zwei winzige Fotografien. Die eine zeigte einen hageren Mann, der hinter einem Stuhl stand, auf dem eine rundliche Frau saß; beide Personen befanden sich in den Vierzigern. Das zweite Bild war vier Kindern gewidmet, drei heranwachsenden Mädchen und einem kleinen Jungen.

Martin tippte mit seinem kleinen Finger auf eins der Mädchen.

»Sind Sie das, Urilla?«

Sie nickte und lächelte, als erinnerte sie sich an die glücklichen Momente, die ihr die Kindheit trotz aller Entbehrungen geschenkt hatte.

»Ja, Martin, das bin ich mit meinen Geschwistern. Und das hier sind Daniel und Eleonor Andersen, meine Eltern.«

Das Lächeln auf Urillas Gesicht verschwand und machte den Schatten böser Erinnerungen Platz.

»Wir hatten gehofft, mit Vaters Reise nach Oregon würde alles besser werden, aber statt dessen wurde es nur noch schlechter. Die Monate vergingen und wurden zu Jahren, aber wir hörten nichts mehr von Vater. Mit allen nur erdenklichen Gelegenheitsarbeiten versuchten Mutter und wir Geschwister uns durchzubringen, doch wir hatten immer weniger zum Leben. Dann starb James, mein kleiner Bruder. Der Arzt meinte, er hätte ein schwaches Herz gehabt. Aber wir alle wußten, daß er nicht genug zu essen bekommen hatte. Fortan wurden wir von den Bürgern wie Aussätzige behandelt, als hätten wir James absichtlich sterben lassen. Wir waren wie vogelfrei für die Leute von Rock Bridge. Vielleicht kamen deshalb eines Abends ein paar betrunkene Männer in unsere Hütte.«

Sie brach ab, klappte das Medaillon zu und verstaute es wieder unter dem Kleid auf ihrer Brust. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet, als suche sie verzweifelt nach Worten.

»Wenn Sie nicht darüber sprechen können, was passiert ist, müssen Sie es nicht«, sagte Martin.

»Doch, ich will! Ich muß mich nur anstrengen, damit mich diese schreckliche Erinnerung nicht übermannt.«

Sie holte tief Atem und fuhr dann fort: »Die Männer fielen über uns her, aber wir wehrten uns. Da haben sie auf uns eingeschlagen und schließlich auf uns geschossen. Sie haben meine Mutter und meine Schwestern getötet. Ich konnte in den Schuppen neben unsere Hütte fliehen und habe mich dort unter altem Gerümpel versteckt. Wahrscheinlich haben sie mich nur deshalb nicht verfolgt, weil sie Angst hatten, die Schüsse hätten den Sheriff alarmiert. Aber niemand kam, um uns beizustehen.«

In hilfloser Wut ballte Martin seine großen Hände zu Fäusten. »Diese Schweine! Wurden sie wenigstens zur Verantwortung gezogen?«

Urilla schüttelte traurig den Kopf.

»Haben Sie die Kerle denn nicht beim Sheriff angezeigt?«

»Doch, aber man hat mir nicht geglaubt. Jedenfalls sagten sie das. Die Männer, die uns überfallen haben, brachten Zeugen bei, die ihre Aussagen bestätigten, sie seien an dem Abend zu Hause gewesen. In der Mehrzahl waren es sogar ihre Frauen, die schworen, neben ihren Männern gelegen zu haben. Der Sheriff und der Richter sagten, in der Aufregung hätte ich mir wohl die Gesichter der Männer nicht richtig gemerkt. Es müßten Leute von auswärts gewesen seien. Ich sei ja noch ein Kind. Sie waren froh, den Ärger in ihrer Stadt damit vom Tisch zu haben.«

»Die Leute in Ihrer Stadt haben Sie ganz im Stich gelassen?«

»Nein, nicht ganz. Sie gaben mir Geld, um in eine andere Stadt zu gehen und das Kind wegmachen zu lassen. Das Kind, das diese Kerle mir gemacht haben, während sie angeblich neben ihren Frauen lagen!«

Martin verstand die Bitterkeit, die in Urillas Worten mitschwang. Er an ihrer Stelle hätte nicht anders empfunden.

»Und. haben Sie es getan?« fragte er vorsichtig.

»Was?«

»Das Kind. Haben Sie es wegmachen lassen?«

»Ja, das habe ich. Ich wollte nicht die Mutter eines Kindes sein, dessen Vater der Mörder meiner Familie ist.« Wieder schaute sie zu Martin auf. »Können Sie das verstehen?«

»Ja«, antwortete er ohne zu zögern.

Urillas Blick glitt wieder in weite Ferne, zurück in ihre Vergangenheit.

»Ich habe mir genug Geld zusammengespart, um nach Kansas City zu gehen. Ich wollte mich einem Treck anschließen, um in Oregon meinen Vater zu suchen. Aber ich kam im Herbst dort an. Die letzten Trecks waren längst abgefahren. Ich traf Alan Clayton, der sich um mich kümmerte. Erst war er sehr nett. Aber je länger wir zusammen waren, desto gemeiner behandelte er mich. Als der Frühling kam und wieder Trecks nach Westen aufbrachen, verhinderte er immer wieder, daß mich jemand mitnahm. Nur mit Adam hätte es fast geklappt.«

»Haben Sie Adam geliebt?« fragte Martin und wurde sich dann erst bewußt, daß er gar kein Recht hatte, Urilla diese Frage zu stellen.

Sie nahm es ihm aber nicht übel, sondern antwortete: »Nein, geliebt nicht. Aber ich mochte ihn. Das hat ihm den Tod gebracht. Jedenfalls möchte ich das niemals wieder tun.«

»Was?«

»Einem Mann sagen, daß ich ihn liebe, obwohl es nicht stimmt.«

Martin antwortete nicht darauf. Ihm fiel nichts ein. Aber er wußte, daß sie ihn damit meinte.

Sie gingen weiter.

»Ich habe Angst«, sagte Urilla plötzlich, als vor ihnen die Bäume lichter wurden und das Grün der Bergwiese zwischen den hölzernen Riesen durchschimmerte. »Da ist wieder dieses Gefühl, daß uns jemand beobachtet!«

Martin blieb stehen, sah sich um und lauschte. War da nicht ein seltsames Knacken im Unterholz? Er lauschte noch intensiver, aber jetzt hörte er nichts mehr.

»Sie müssen sich täuschen, Urilla«, beruhigte er die Frau, faßte sie am Arm und führte sie aus dem Wald hinaus.

Kaum hatten sie die Bäume hinter sich gelassen und schritten auf den Creek zu, da brach das Untier mit einem gewaltigen