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»Ich bitte Euch um Vergebung, Herr«, keuchte Tiedo rasch. »Prinz Siegfried ist tatsächlich durch das Tor gegangen. Aber er trug uns auf zu schweigen. Nur deshalb habe ich Euch nicht gleich geantwortet, Graf Reinhold.«

»Wann ist Siegfried durch das Tor gegangen?«

»Es ist noch keine halbe Stunde her.«

»War der Prinz allein?«

»Ja.«

»Beritten?«

»Nein, Herr.«

»Was war sein Ziel?«

»Das hat er uns nicht genannt.«

»Ist euch sonst etwas aufgefallen?«

Tiedo überlegte kurz und sagte dann: »Der Prinz wollte wohl nicht erkannt werden. Er hatte einen Umhang um seinen Kopf gewickelt.«

Reinhold schaute nachdenklich durch den Torbogen auf das Häusermeer Xantens. Ruckartig wandte er sich zum Gehen um. Tiedo wollte schon aufatmen. Da blieb der Kriegsherr abrupt stehen, drehte den Kopf und rief: »Die nächste betrunkene Wache, auf die ich stoße, bekommt von mir eigenhändig zu trinken, und zwar Rheinwasser bis zum Verrecken!«

Mit schnellen Schritten in Richtung Palas entfernte sich der Graf und wurde schließlich eins mit den Schatten der Nacht. Wie ein böser Traum, der in den dunklen Abgründen verschwand, aus denen er emporgestiegen war. Oder wie ein Teufel, der zurück in die Hölle fuhr.

Heißes Wachs tropfte von dem Kerzenstummel auf seine Hand und erlöste Siegfried aus der Starre, die ihn beim Anblick des geheimnisvollen Vagabundus befallen hatte. Er stellte die tropfende Kerze auf die Anrichte mit den kleinen Stäben, die er für Würfel gehalten hatte. Aber es waren keine Würfel. Ähnliches hatte er schon einmal gesehen, in jener Nacht am Rhein, in Reinholds Lederbeuteclass="underline" Runenstäbe.

Das Kerzenlicht glitt auf die Runen und auf den Mann, der auf einer schmalen Pritsche saß und Siegfrieds erstaunten Blick ruhig erwiderte. Sogar im Sitzen fiel sein hoher Wuchs auf. Doch war er nicht ganz so groß wie Siegfried, weniger sehnig, dafür etwas kräftiger gebaut, wie es das zunehmende Alter mit sich brachte. Aber so alt, wie er mit den grauen Haaren und dem grauen Vollbart wirkte, war er noch nicht. Als Siegfried ihn das letztemal gesehen hatte, waren die Haare noch dunkler gewesen und das Gesicht rasiert. Grau war die beherrschende Farbe an dem Mann. Grau waren seine Augen und die buschigen Brauen. Grau war auch der Umhang, der lose um seine Schultern lag.

»Deine Augen erkennen mich, Siegfried, aber dein Verstand scheint sich zu sträuben.«

»Kein Wunder«, erwiderte der Prinz mit belegter Stimme. »Manche hielten Euch schon für tot, für eine Legende oder einen Geist. Weshalb seid Ihr dann zurückgekehrt?« Siegfrieds Stimme klang aggressiv. Er spielte das Spiel des anderen, notgedrungen, aber es gefiel ihm nicht. Jahrelang war der Mann, der sich Vagabundus nannte, verschollen gewesen. Und jetzt tauchte er aus dem Nichts auf und bestellte Siegfried zu nachtschlafender Zeit in diese schmutzige Kaschemme!

»Ich kam her, um dich und das ganze Reich vor größerem Schaden zu bewahren«, erklärte Vagabundus und fügte leise hinzu: »Falls es noch möglich ist.«

»Ihr meint den Krieg mit Friesland?«

»Ganz recht.«

»Ich glaube nicht, daß Ihr noch etwas ändern könnt. Zu schwer wiegen Prinz Harkos Tod und Prinzessin Amkes Entführung.«

»Vielleicht können wir König Hariolf doch umstimmen, wenn wir den wahren Übeltäter überführen.«

»Ich verstehe Euch nicht«, bekannte Siegfried.

»Daß du Prinz Harko getötet hast, geschah nicht durch Zufall, Siegfried. Deine Wut, die dich mit dem Schwert zuschlagen ließ, mag dir angeboren sein, aber entfacht und verstärkt wurde sie durch den bösen Zauber des Runenschwertes.«

»Ihr wißt, daß ich...«

»Daß du in der Wolfsburg und in der Schlangenhöhle gewesen bist, tapferer Recke.« Vagabundus nickte. »Ich war stets in der Nähe.«

»Der Graue Geist!« entfuhr es Siegfried.

Vagabundus blickte ihn fragend an, und Siegfried berichtete von der geisterhaften Gestalt, die er den Grauen Geist genannt hatte. »Jetzt weiß ich, daß Ihr es wart.«

Vagabundus nickte. »Ich ahnte das Unheil schon lange. In letzter Zeit mehrten sich die bösen Zeichen und die schlechten Nachrichten, die mich erreichten. Ich beobachtete den Verräter und griff nicht ein, um seine Pläne gänzlich zu erfahren. Wie es aussieht, habe ich zu lange gezögert. Aber zumindest ist er nicht im Besitz des Runenschwertes. Gut, daß du es mitgebracht hast!«

»Woher wißt Ihr das?« wollte Siegfried wissen. Zwar mochte ein guter Beobachter unter seinem Umhang die Umrisse der Waffe erkennen, aber nicht, daß es sich um das magische Schwert der Götter handelte.

»Ich fühle es«, erklärte Vagabundus, während er die Runenstäbe in einen Leinenbeutel strich. »Und die Runen haben es angekündigt.« Er seufzte schwer. »Leider sprechen sie nicht immer eine so deutliche Sprache, sonst ließe sich viel Böses verhindern.«

»Ihr sprecht auch keine deutliche Sprache«, entgegnete Siegfried mit wachsendem Zorn. »Je mehr Ihr erklärt, desto weniger verstehe ich. Von welchem Verräter sprecht Ihr? Und warum soll das Runenschwert meine Wut entfacht haben?«

Die grauen Augen blickten Siegfried eindringlich an. »Ich sehe dir an, daß du es spürst, Siegfried. Tief in dir wachsen die Zweifel. Hast du noch nicht daran gedacht, daß mit dem Runenschwert das Unglück über die Niederlande gekommen ist? Spürst du es nicht, wenn du das Schwert trägst, wenn du es berührst? Fühlst du nicht die böse Macht, die sich deiner bemächtigt, das Gute in dir unterdrückt und das Böse, das Schlechte zum Vorschein holt? Ich meine Haß und Zorn, die Quellen der Zerstörung!«

In den Worten lag viel Wahrheit. Tatsächlich fühlte sich Siegfried unbesiegbar, wenn er das Runenschwert in Händen hielt. So, als könne er es mit der ganzen Welt aufnehmen. Aber war es nicht der Wille Wodans, daß seine Abkömmlinge die mächtigsten Herren wurden?

»Was dachtest du dir nur dabei, das Schwert zu bergen und zusammenzusetzen?« fragte Vagabundus kopfschüttelnd. »Hältst du deinen Vater für einen Narren, daß er das Runenschwert zerbrach? Meinst du, ich hätte es an so unzugänglichen Orten verborgen, wenn ein Knabe es führen sollte?«

»Ich bin kein Knabe mehr!« rief Siegfried zornig.

»Ein Mann hätte überlegter gehandelt«, spottete Vagabundus und schüttelte sein graues Haupt.

Siegfried reagierte blitzschnell. Er warf den Umhang ab, zog das Schwert aus der Scheide und stieß die Klinge vor, gegen den Leib des anderen. Er verspürte große Lust, den Leib seines Gegenüber zu durchbohren.

»Da siehst du, welche Macht das Runenschwert über dich besitzt«, stellte Vagabundus triumphierend fest. »Oder glaubst du wirklich, du hättest eine andere Waffe gegen deinen Oheim erhoben?«

Siegfrieds Rechte zitterte.

Sein Oheim!

Siegfried hatte ihn in Gedanken weiterhin Vagabundus genannt, vielleicht weil es so unglaublich war, daß er Grimbert gegenüberstand. Grimbert dem Verschollenen. Grimbert dem Wunderlichen. Grimbert dem Runenzauberer. Grimbert dem Wanderer. Vagabundus!

Erschrocken darüber, fast den Bruder seiner Mutter getötet zu haben, steckte Siegfried das Schwert zurück in die Scheide. »Es tut mir leid«, flüsterte er.

»Ich hätte eher eingreifen sollen, bevor du das Schwert zusammengeschmiedet und den bösen Zauber neu entfacht hast. Aber ich ahnte nicht, daß das Unheil so rasch über uns kommen würde.«

»Aber warum ein böser Zauber? Reinhold hat mir erzählt, Wodan habe das Runenschwert meinen Ahnen geschenkt, um Gutes damit zu tun.«

»So war es auch, bis jemand auf dem Friesenfeldzug den Zauber ins Böse wendete. Er veränderte die Runen. Dein Vater bemerkte es zu spät, als er schon blutige Schandtaten mit der Klinge verübt hatte. Zum Glück besann er sich und zerstörte das Schwert.«